Erinnerungen



      Duncan Graham aus Sussex saß am Kopfende des großen Tisches, der im Wohnzimmer des Hauses aufgebaut wurde. Sein Blick fiel auf den prächtig geschmückten Tannenbaum auf der anderen Seite der Tafel. Wie jedes Jahr, waren zum Weihnachtsessen alle seine Kinder, Enkelkinder und Urenkel erschienen. Sinnierend blickte Duncan auf den großen Weihnachtsbaum. Es war mittlerweile das 94. Weihnachtsfest, das er erlebte. Dann ließ er stolz den Blick über die Anwesenden schweifen. Drei Töchter und einen Sohn hatte er. Jeder hatte seinen Partner dabei. Fünf Enkel zählte er, zwei davon waren schon verheiratet und hatten ihren Partner mitgebracht. Und die jüngsten am Tisch waren seine drei Urenkel. Duncan kam auf insgesamt 18 Personen, eine stattliche Zahl, wie er meinte.
      Schließlich fiel der Blick auf den Platz neben ihn. Seine Mine verfinsterte sich. Fünf Jahre war er nun schon leer, dieser Platz an seiner Seite. Vor fünf Jahren hatte ihn seine Millicent verlassen. Verstohlen wischte er sich die Tränen aus den Augen. Er sah sich um, keiner hatte es gemerkt.
      Sie waren beschäftigt mit ihren Unterhaltungen. Wie eine Schar schnatternder Gänse, dachte Duncan belustigt und die schwarzen Wolken, die seine Stimmung getrübt hatten, verschwanden wieder.
      Es war schön, so wie es war. Wie in jeder Familie, gab es auch Zwistigkeiten. Doch an diesem einen Tag wurden alle Differenzen begraben, die es zuvor gab.
      Das war auch seiner Milli immer am wichtigsten gewesen.
      Da wurde ihm eine Erinnerung bewußt. Es war in der Zeit, von der er nie gern erzählte. Doch das wollte er wenigstens einmal loswerden, bevor es in Vergessenheit geriet.
      „Kinder! Hört mir mal zu, ich möchte euch eine Geschichte erzählen.“, sagte er also mit erhobener Stimme, um das Geschnatter zu übertönen. Plötzlich war alles still. Alle blickten erwartungsvoll auf ihren Vater, Schwiegervater, Großvater und Urgroßvater.
      „Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, wie sie wohl nicht allzu oft geschehen ist. Wisst ihr, es gibt Dinge im Leben, die sind Besonders, weil sie einem unmöglich vorkommen. Es war 1943. Ich war damals auf der HMS Fleetwood stationiert. Wir waren im Mittelmeer als Begleitschutz für Fregatten, Flugzeugträger und Schlachtkreuzer unterwegs. Am 24. Dezember waren wir auf dem Rückweg von einem Einsatz zu unserer Basis in Gibraltar. Plötzlich meldete Chief Petty Officer Kingsley einen Sonarkontakt. Ich war auf der Brücke, als er seine Meldung machte. Als Lieutenant-Commander hatte ich dort Dienst. Kingsley meinte, seine Unterwasserohren hätten wohl ein U-Boot aufgespürt. Die Meldung wurde geprüft von einem weiteren Sonarspezialisten. Wenn ich mich recht erinnere, war das Midshipman Cole. Nach der Bestätigung, setzten wir auf Befehl des Captains Wasserbomben ein. Doch statt einer Gegenwehr, nahm das deutsche U-Boot mit der Nummer U 371 Funkkontakt mit uns auf. Sie baten doch tatsächlich darum, das Feuer einzustellen, mit der Begründung es sei Weihnachten. Unser Captain war damals ganz schön verwirrt. Aber er hat es trotzdem getan. Wenig später tauchte das U-Boot neben uns auf. Der Kommandant fragte uns, ob wir nicht einfach mal eine Pause in diesem bekloppten Krieg machen wollen und zusammen Weihnachten feiern. Unser Captain war ganz schön baff. Doch die Idee fand er sehr gut und da wir alle auch einverstanden waren, stimmte er zu. So kam es, das die 48 Mann der deutschen U-Boot Besatzung gemeinsam mit unseren 88 Mann in unserer Messe auf der Fleetwood Weihnachten feierten. Es war ein großartiges Fest, ich glaube, die gesamten Bestände an Alkohol wurden verbraucht. So mancher hat später behauptet, es wäre Sturm gewesen, weil das Schiff so schwankte. Wir sprachen und lachten miteinander, soweit es die jeweiligen Sprachkenntnisse zuließen, und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Später trennten wir uns in einer freundschaftlichen Atmosphäre. Danach fuhren wir beide wieder unsere Wege. Unser Schiff zurück nach Gibraltar und das U-Boot weiter auf Feindfahrt. Ich wette, es ging den Deutschen nicht anders, bei dem Gedanken, daß wir wieder aufeinandertreffen würden und dann aufeinander schießen müssten, hatten wir einen Kloß im Hals. Zum Glück ist es nie dazu gekommen, ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich den Befehl zum Angriff gegeben hätte. Wie ich hörte, wurde die U 371 etwa fünf Monate später versenkt. Die Meisten haben glücklicherweise überlebt. Ein paar unserer Besatzungsmitglieder haben sogar über lange Jahre den Kontakt durch Brieffreundschaften mit den Deutschen aufrecht gehalten.
      Das war wohl das ungewöhnlichste Erlebnis, das ich in meiner Zeit bei der königlichen Marine hatte. Und es war ein Beleg dafür, das Menschlichkeit immer gewinnt.“

      Anmerkung: Die Geschichte ist fiktiv, aber die genannten Schiffe und Daten sind real. Beide Schiffe existierten im angegebenen Zeitraum und haben beide im Mittelmeerraum operiert.
      Es hätte also sein können…

      ©Falko Mann 11/2018