Rodeltag



      Ich erinnere mich noch genau.
      Als meine Schwester und ich aufwachten, war es still, aber anders still.
      So, als ob unser Haus unter einer dicken Decke lag. In meinem rosa Frotteeschlafanzug huschte ich zum Fenster. Schnee! Es hatte meterhoch geschneit und es schneite immer noch. Unser Zaun, der Sandkasten, der ganze Garten wurde von einer dicken, weißen Decke verschluckt. Meine Schwester, ebenfalls im Frotteeschlafanzug, allerdings Mintfarben, grinste über das ganze Gesicht.
      „Heute wird gerodelt!“
      An das gemeinsame Frühstück mit unseren Eltern kann ich mich kaum noch erinnern, aber die zig Kleidungsstücke die wir angezogen haben und die für mich Winter und Schnee bedeuteten, die habe ich noch genau vor Augen...
      Blümchenunterwäsche, lange blaue Strumpfhose, Langarmshirt, darüber ein Rollkragensweater und dann haben wir uns in den Schneeoverall gezwängt. Meiner hatte sogar einen Gürtel mit Klickverschluss. Die weiße Pudelmütze und warme Fäustlinge durften natürlich nicht fehlen.
      Wie zwei Marshmellow-Männchen stapften wir die Treppe herunter. Mein Vater stand schon mit unserem Holzschlitten bereit und er zog uns die 1,5 km zum nächsten Rodelberg. Alle Bürgersteige und auch die Straßen waren eingeschneit. Unser Schlitten glitt wie Butter durch die weiße Pracht und die Stiefel meines Vaters knirschten im Schnee. Je näher wir dem Rodelberg kamen, um so mehr Kinder und Eltern trafen wir auf unserem Weg. Es schien, als ob sich der ganze Ort auf den Weg gemacht hatte, diesen Schneetag zu feiern. In meiner Erinnerung war der Rodelberg recht steil und man kam gehörig in Fahrt. Unten war ein flacheres Stück, auf dem man den Schlitten ausfahren lassen konnte und ganz am Ende begrenzte ein kleiner Bachlauf den Berg.
      Wir fuhren gefühlte 20 Stunden.
      Mal alleine, mal mit unserem Vater oder meine Schwester und ich zusammen. Hoch, runter, hoch, runter; wir konnten nicht genug bekommen. Auch das ständige Schlittenhochziehen machte uns nicht müde. Und dann kam sie, die letzte Fahrt mit meinem Vater zusammen. Er saß hinten und ich vor ihm. Wir nahmen ganz schnell Fahrt auf, da sahen wir beide einen Jungen seinen Schlitten hochziehen, allerdings direkt auf unserer Rodelstrecke. Mein Vater und ich fingen fast gleichzeitig an zu rufen: „Aus dem Weg! Geh zur Seite!“ Aber der Junge konnte oder wollte uns nicht hören. Ich machte mich auf einen Zusammenstoß gefasst, denn auch die Versuche meines Vaters den Schlitten in eine andere Richtung zu wenden, brachte nicht den gewünschten Erfolg. Kurz bevor wir den Jungen erreichten, hob der seinen Kopf und brachte nur noch ein erstauntes „Oh!“ zustande und dann, Plumps, saß er vor mir auf unserem Schlitten. Wir waren geradewegs durch seine Beine gefahren. Wir guckten uns an und dann brüllten wir los vor Lachen. Ein Lachen, das einem die Tränen in die Augen treibt und den Bauch zum Schmerzen bringt.
      Da mein Vater nun gar nichts mehr sehen konnte, ich ja auch nicht und der Junge sowieso nicht, brüllte er die ganze Zeit nur: „Alle aus dem Weg! Macht Platz!“. Da mussten wir noch mehr Lachen und mein Vater schließlich auch. Wir fuhren einfach weiter und landeten zu guter Letzt im Bach.
      Herrlich... pitschnass, mit Lachtränen im Gesicht, stapften wir dann nach Hause, wo wir unsere Mutter aufgeregt von diesem Ereignis erzählten; eingemummelt in unsere Bademäntel und vor uns ein tiefer Teller mit Zwieback, Honig und heißer Milch darüber.
      Diesen Rodeltag werde ich nie vergessen.

      ©Stefanie Bogner-Raab 11/2018