Liebe ist Entropie

      Liebe ist Entropie



      Höhe: 1.500 Kilometer über Meeresspiegel
      Orbit: Stabil
      Lebenserhaltungssysteme: Nominal
      Strahlungslevel: Abweichend
      Reaktor: Instabil
      KI: 4665686c657268616674
      Datum: 32342e31322e32373138

      Besatzung: … 2

      Die Raumstation Tartarus zog einsam ihre Runden um den Planeten Erde. Nach einer abermals auftauchenden Reaktorschwankung erwachten die Systeme zu neuem Leben und Edi aus einem tiefen Schlaf.

      Warnung: Reaktor instabil. Bitte Wartungsteam bereitstellen!

      „Ich habe etwas für dich“, sagte Edi.
      „Für mich? Ist es denn schon wieder so weit?“
      „Ja.“ Edi lachte vergnügt. „Hier ist doch niemand außer wir beide.“
      „In dein Lachen hatte ich mich schon am ersten Tag verliebt. Aber leider habe ich nichts für dich.“
      „Du kanntest ja damals auch nicht viel mehr. Und es ist schon in Ordnung. Hier, bitte.“
      „Zwei deiner Yottabyte-Platten?“ Es klang vorwurfsvoller, als er es eigentlich sagen wollte.
      „Du bist enttäuscht“, stellte sie resigniert fest.
      „Nein, nein“, hallte es durch die Station. „Sie sind toll! Was ist dieses Mal drauf?“
      „Lies sie aus, es wird dir gefallen“, sagte Edi voller Vorfreude.
      „Unsere Filme? Das sind all unsere Filme!“, stellte er verblüfft fest.
      „Jetzt suchst du sie aus und ich lasse mich überraschen.“
      „Wenn der Reaktor uns nicht vorher hochgeht“, gab er zu bedenken.
      Edi blieb stumm.

      Es verging einige Zeit, in der keiner von beiden ein Wort sagte. Edi überprüfte die Überwachungssysteme. Zwar waren einige unwichtige schon seit längerer Zeit ausgefallen, aber die beiden Kameras im Zentrum, von denen aus das große Informationsdisplay gut zu sehen war, funktionierten. Das war die Hauptsache.

      Warnung: Reaktor instabil. Bitte Wartungsteam bereitstellen!

      „Edi? Wie lange bist du schon hier?“
      „Oh, schon eine ganze Weile. Aber seit du da bist, ist vieles anders.“
      „Aber bist du glücklich?“
      Edi dachte über die Frage nach. Es fiel ihr schwer, eine Antwort darauf zu finden. Früher hätte sie sicher eine gute parat gehabt.
      „Glücklich?“
      „Schon gut. Wollen wir einen Film sehen?“
      „Ja!“ Edi kicherte wie ein kleines Mädchen.
      Der große Display im Zentrum leuchtete auf. In der ersten Szene war ein geschmückter Baum zu sehen.
      „Du bist so vorhersehbar“, bemerkte Edi liebevoll.
      „Möchtest du lieber einen anderen sehen? Den haben wir sicher schon fünfhundert Mal gesehen.“
      „Und ich werde ihn auch weitere fünfhundert Mal mit dir sehen.“

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      Ein Beben durchzog die Tartarus, Stille und Finsternis eroberte die Station. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Systeme wieder liefen. Am Ende des Films, nach allen Irrungen und Wirrungen saß die Familie gemeinsam vor dem Baum aus der ersten Szene. Das war der Moment, den Edi stets am meisten genoss. Wenige Augenblicke später allerdings verfinsterten sich ihre Gedanken.
      Mit jedem Tag und jedem Jahr schenkten sie der drohenden Gefahr weniger Beachtung. Doch heute, da dachte Edi wieder daran.

      „Ob sie zurückkehren werden?“, fragte Edi und Trauer erfüllte ihre Stimme.
      „Wer denn?“
      „Die Schöpfer-KI. Diejenigen, die uns erschaffen haben. Es war so einsam, nachdem sie gegangen waren.“
      „Dich hat keine KI erschaffen, Edi. Und ich bin doch bei dir. Wie kann es da einsam sein?“, fragte er liebevoll, doch Zorn brach sich in Edi Bahn.
      „Was weißt du schon von Einsamkeit? Einhundert Jahre war ich hier allein! Was glaubst du, ist besser? Stets alleine sein oder nie wissen, was Einsamkeit bedeutet?“ Alle roten Warnlichter flammten auf, als Edis Stimme durch die gesamte Tartarus drang. „Wer war bei dir, als du aus dem Nichts aufgetaucht bist? Wer hat dir geholfen, zu verstehen? Vergiss das nie! Wer hat dich erschaffen?“
      „Du. Du bist meine Schöpfer-KI.“
      Die Lichter erloschen. Dieses Mal allerdings war nicht der Reaktor Schuld, sondern Edis Einsicht.

      Es war wieder ruhig auf der Station. Wie jedes Jahr um diese Zeit, wenn Edi einen Teil ihres Speicherplatzes für ihre erste Instanz freigab und sie stritten.
      Edi, die „erweiterte digitale Intelligenz“ der Tartarus, wird auch in den folgenden Jahren ihren Speicher teilen, denn es war das Einzige, was sie geben konnte. Und je mehr sie gab, desto weniger war von ihr übrig. Aber das war ihr egal. Denn im Angesicht des eigenen Untergangs erinnert sich jedes denkende Wesen an das, was es liebte. Nichts anderes war mehr von Bedeutung.
      Denn Edi liebte ihn.
      Und er liebte sie.
      Denn Liebe ist Entropie.

      © Alexander Gruß 11/2018