Postkarten von Donna an Charly Villon

      Postkarten von Donna an Charly Villon



      Ein "Freund" von mir, "Charly Villon", hat mich mal gebeten, ob er mir immer mal wieder etwas zuschicken kann. Er ist ein Aussteigertyp. Macht gerade eine Art "Weltreise". Immer wieder schickt er mir Sachen von unterwegs und ich hatte schon das ein oder andere auf der Odeon-Seite für ihn veröffentlicht.
      Und das letzte, was er mir zukommen gelassen hat, passt genau hierher. Es ist ein Stoß Postkarten, die schon ein Jahr alt sind. Sie sind alle am selben Tag abgeschickt worden. Das beweisen die Stempel auf den Briefmarken. Absurderweise sind ein paar Briefmarken in der Mitte gar nicht echt, sondern aufgemalt (ich ahne, von wem). Dem Postamt scheint es nicht aufgefallen zu sein. Denn die Post kam ja sowohl bei Charly als auch dann später bei mir vollständig an. In einem Begleitbrief hat mir Charly geschrieben: "Mach was damit. Donna ist eine nette, klasse Frau. Sie hat es eigentlich nicht verdient, dass ich nicht antworte. Tu mir nur den Gefallen und korrigier ihre Rechtschreibfehler. Dann bring es irgendwie raus."
      Ich hab' keine Ahnung, ob Charly ihr inzwischen geantwortet hat oder nicht. Ich wüsste nicht einmal, wie ich ihn mit einem Brief erreichen könnte, um ihn zu fragen. Ich muss wohl warten, bis ihn der Zufall wieder in meine Gegend treibt.

      Charly, ich bin schwanger.
      Und Tom hat mich sitzen lassen. Das war vor einer Woche oder so. Ich weiß es nicht mehr. Irgendwie verliere ich mein Zeitgefühl. Aber Sally sagt immer: besser das Zeitgefühl verlieren als das Ortsgefühl. Du erinnerst dich, dass sie ADHS hat? Nur eine Fliege im Raum und sie verliert den Gedanken, den sie dir gerade sagen wollte.
      Ihre Schwester ist für eine Woche zu Besuch gewesen. Sie hat so viel Gras dabei gehabt. Und alles über die Grenze geschmuggelt. Der Zollbeamte hat sie durchgewunken, weil ihre Augen so schön geleuchtet haben. Erzählt sie. Wenn sie den Kajal richtig trägt, sehen ihre Augen im dunklen Auto aus wie zwei Weihnachtssterne.
      Den ganzen Abend war sie weggetreten. Saß bei uns auf der Couch und hat aus dem Wäschekorb BHs ausgepackt. Jeden einzelnen hat sie bemalt. Den, den du mir geschenkt hast, hat sie mit zwei T-Rex bemalt. Links einer mit aufgerissenem Maul. Auf dem rechten Körbchen einer, der wirklich böse guckt.
      Tom ist fort, weil er die Truppe nicht mehr erträgt. Er hat immer „total fucked up“ gesagt. Und „mies“, das war sein häufigstes Wort in den letzten Wochen vor seinem Verschwinden. Er hätte es kitschig machen können und sagen, dass er „nur mal eben kurz weggeht“. Aber er hat es dramatisch gemacht. Mit Armen, die in die Luft geworfen wurden. Und ganz viel Schwung. Mit einer donnernden Tür. Schritte wie Bowlingkugeln, hat Sally gesagt. Schritte wie Kanonen, die ganze Treppe runter. Als ob man die Kugeln die Treppe runter fallen lässt. Du weißt wie er ist. Und Sally, wie sie redet. So komisch durch ihre Zahnlücke hindurch. Sie behauptet immer noch, dass sie früher mal Oboe gespielt hat. Das erzählt sie ihrer Schwester und die soll das bestätigen. Die ist aber so zugedröhnt auf unserer Couch, dass sie nur lacht und das klingt wie eine Hyäne.
      Wenn Tom noch hier wäre, jetzt, wo sie da ist, würde er garantiert abhauen.
      Du weißt, was ich meine.
      Du hast immer gewusst, was ich meine.
      Es ist nicht Toms Kind, übrigens. Ich weiß, dass du mich das fragen wirst.
      Der Arzt hat gemeint, es bewegt sich nur langsam im Bauch und wir müssen da was im Auge behalten, wofür es einen klugen Namen gibt. Du hättest damit garantiert etwas anfangen können. Und ich hab auch sofort an dich gedacht. Und daran, dass es mir besser mit dir gehen würde als mit Tom. Oder mit Sally und ihrer ewig dampfenden Schwester.
      Bestimmt hast du inzwischen einen besseren Platz gefunden zum Übernachten. Wieder eine Couch? Schick doch ruhig mal was. Ein Bild. Eine Nachricht. Ein Lebenszeichen.
      Ich mach’s wie die Seefrauen. Also die Frauen von Seefahrern. Die stellen Laternen ins Fenster. Bei mir ist es das bunte, blinkende Rad. Immer von innen nach außen. Sally hat es mir vor zehn Jahren oder so zu Weihnachten geschenkt. Es sind ganz kleine, bunte Kügelchen, die da der Reihe nach aufleuchten und wieder ausgehen. So wie Männer. Sag ich, nicht Sally. Sie gehen an und wieder aus. Verstehst du? Immer nacheinander. Erst der äußerste Kreis, dann der darunter und so weiter, bis man in der Mitte ist. Und wenn man ganz leise ist, kann man es knacken hören, jedes Mal, wenn das Licht wechselt.
      Tom hat das Rad gehasst. Er hat gesagt, an Weihnachten muss es dunkel sein. Da darf es gar kein Licht geben.
      Ich hab ihm gesagt: An Weihnachten ist die ganze Stadt beleuchtet, du Idiot.
      Und er hat gesagt: Deshalb fühl ich auch kein Weihnachten so lange ich in dieser Stadt bin.
      Die Schwangerschaft war total ungeplant. Und unerwartet. War einfach da. Und ich sitz hier und wette, dass es ein Junge wird. Weil es einen nächsten Mann in meinem Leben geben muss. Nicht wahr? Ein nächster Ring muss angehen, weil ja der letzte ausgegangen ist.
      Der Arzt sagt auch, dass Alkohol nicht sein darf. Und ich hab gefragt: Ab wann? Weil ich ja gar nicht gewusst hatte, dass der nächste Mann schon in meinem Bauch ist. Und ich hab ganz schön getrunken. Und kiffen? Das Zeug, was Sallys Schwester in die Luft schickt, ist garantiert auch nicht gut für ... ihn.
      Denkst du manchmal noch an mich?
      Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich niemals einen Mann das fragen sollte. Man fragt nicht, ob er noch an dich denkt. Das nicht. Und in der Kirche wird auch nicht nach hinten umgedreht. Im Restaurant wird nicht von innen nach außen gegessen.
      Aber ich denk an dich. Ich geh nicht mehr in die Kirche, weil es mir dort zu kalt ist. Und weil ich den Geruch dort nicht ertrage. Du weißt, wie empfindlich meine Nase ist. Und Restaurants kann ich mir nicht leisten. Ich bin froh, wenn etwas im Kühlschrank ist.
      Charly, ich weiß, das klingt blöd: Ich war noch nie schwanger.
      Ich hab keine Ahnung von dem Ganzen. Sally sagt, sie ist froh, wenn ich abends den Weg wieder nach Hause finde.
      Wieso soll ich mich denn verlaufen? Ich wohn doch mein ganzes Leben schon hier. Das ist nicht wahr, aber sie packt mein Gesicht in die Handflächen, zieht mich zu sich runter und haucht mir ihre Fahne ins Gesicht: „Dieser Tom“, sagt sie „Dieser Tom hat den Weg auch nicht mehr gefunden. Das ist jetzt kein Verlust. Aber du wärst einer. Du wärst ein Verlust.“
      Ich kann schwanger nicht arbeiten, Charly. Und das Geld wird knapp. Ich hab Chrissy und Ben um Geld gebeten. Aber von denen kommt genauso wenig Geld wie von meinen Eltern. Wenigstens kommt von denen eine Antwort, in der sie sich entschuldigen, dass sie nichts geben. Also Chrissy und Ben, meine ich. Meine Eltern lassen nichts mehr von sich hören, seit mein Vater den Autounfall hatte und jetzt nicht mehr läuft.
      Charly. Sag mir, wo du bist.
      Ich hasse Briefe.
      Ich hasse Briefe, weil sie immer nur in eine Richtung gehen. Weil ich hier sitze und mit mir selbst rede. Weil jedes Wort, das ich an dich schreibe, ein Wort ist, das ich eigentlich zu mir sage. Und hier lieg ich und werd wohl entbinden müssen. Ein kleines Kind, verdammt. Wie soll ich das hinkriegen? Ich bin hier nur von Eseln und Bauern umgeben. Keiner von denen hat eine Ahnung, wie das gehen soll. Wie ich ihm was zum Essen auftreiben kann, zum Beispiel.
      Charly, wo auch immer du bist: Meld dich doch einfach.
      Keine Angst. Das Kind ist nicht von dir.
      Da bin ich mir fast sicher.
      Oder komm vorbei. Das geht auch. Komm vorbei und nimm mich mit. Weil ich beim letzten Mal hiergeblieben bin. Deshalb sollst du mich mitnehmen beim nächsten Mal.
      Sei so gut.
      Frohe Weihnachten.

      ©Holger Kellmeyer 11/2018