Heiliger Abend

      Heiliger Abend



      Jonas schlug die Augen auf. Es dämmerte bereits.
      Er räkelte sich noch unter der warmen Decke und streckte sich, gähnte herzhaft.
      „Heute ist es also soweit.“, dachte er. „Heiliger Abend. Endlich. Aber wieso eigentlich Heiliger Abend? Es ist doch erst morgens. Wieso erfinden Erwachsene immer so komische Namen? Warum nicht Heiliger Tag? Das würde auf alles passen. Egal ob morgens, mittags oder abends. Aber Heiliger Abend? Das passt doch noch gar nicht. Gut, wenn der ganze Tag wirklich als Heiliger Abend zählen würde, dann wäre es ja nicht schlimm. Dann gäbe es gleich nach dem Aufstehen die Geschenke und ich müsste nicht so lange warten. Blöd, daß das so nicht funktioniert.“ Jonas seufzte und hörte mit dem Grübeln auf. Er schlug die Decke zurück und kroch aus dem Bett.
      Es war schon schön warm. Die aufgeheizte Luft quoll aus einem Gitter, unten auf dem Boden, das war der Luftschacht, der aus dem Wohnzimmer hoch kam. Dort stand ein großer Kachelofen, der heizte das ganze Haus. Jonas‘ Papa stand jeden Morgen auf, so gegen 4:00 Uhr, und legte Holz nach.
      Die Winter waren hier sehr kalt.
      Jonas zog sich den Bademantel über und ging ans Fenster, um hinaus zu sehen.
      Er begann wild zu hüpfen und zu jubeln: „Schnee! Schnee! Schnee! Endlich Schnee!“.
      Über Nacht hatte es geschneit. Es fing schon abends an, als Jonas gerade ins Bett ging. Aber davon hatte er nichts mehr mitbekommen. Die ganze Nacht schneite es kräftig, mehr als einen halben Meter Schnee lag dort draußen. Alles war weiß, als wäre eine Daunendecke ausgebreitet worden. Darauf hatte Jonas schon die ganze Zeit gewartet. In diesem Jahr kam der Schnee sehr spät und Jonas hatte schon Angst gehabt, daß er gar nicht käme. Keine weiße Weihnachten! Das wäre eine Katastrophe gewesen. In den ganzen fünf Jahren seines Lebens gab es immer weiße Weihnachten. Er hätte sich nicht vorstellen können, wie Weihnachten ohne Schnee wäre. Von seiner Tante wusste er, daß es unten in der Stadt oft nicht schneit zu Weihnachten. Aber hier auf der Alm, da war immer Schnee.
      Fröhlich polterte Jonas die Treppe hinunter. Ach wie duftete das gut. Nach frischen Brötchen und Kaffee. Den durfte er zwar nicht trinken, aber der Geruch gefiel ihm trotzdem. Seine Mutter stand gerade am Ofen, als sie ihren Sohn hereinkommen hörte. „Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“ „Ja, Mama. Hast du schon gesehen? Es hat geschneit!“ „Das habe ich schon gesehen.“, erwiderte seine Mutter kichernd auf die aufgeregte Frage ihres Sohnes und fuhr fort: „Geh erst mal ins Badezimmer, wasch dich und zieh dich an.“ Jonas tat wie ihm geheißen. In Windeseile wusch er sich und zog sich an. Als er zurück in die Küche kam, fragte seine Mutter ihn: „Magst du Papa holen? Das Frühstück ist gleich fertig.“ „Mach ich!“, rief Jonas fröhlich, zog sich seine warme Jacke und die gefütterten Stiefel an und machte sich dann auf den Weg in den Stall. Er öffnete die Tür und stapfte in den Schnee. Es knirschte bei jedem Schritt so herrlich. Jonas konnte der Versuchung nicht widerstehen, er bückte sich und formte einen Schneeball. Er warf ihn soweit er nur konnte. Kurz darauf hatte Jonas einen Rhythmus, einen Schritt Richtung Stall, einen Schneeball. So dauerte es doch eine geraume Weile bis er endlich den Stall erreicht hatte. Er stieß die Tür auf. Sein Vater blickte auf, er war gerade mit dem Melken beschäftigt. „Guten Morgen Jonas. Wie gefällt dir der Schnee?“ „Super, Papa. Mama sagt, du sollst frühstücken kommen.“ „Alles klar. Ich bin in zwei Minuten fertig. Willst du so lange warten?“ „Ja, Papa.“ Geduldig wartete er, dabei sah er verzückt aus dem Stallfenster und streichelte dabei mechanisch die Kuh Lisa, die ihn sanft angestupst hatte. Wenig später sagte sein Vater: „So, fertig. Gehen wir frühstücken.“ Jonas ergriff die Hand, die sein Vater ihm hinhielt und gemeinsam gingen sie zurück ins Haus. Fünf Minuten später saßen sie zusammen am Frühstückstisch. Die von Jonas‘ Mama selbstgebackenen Brötchen dufteten köstlich und schmeckten noch besser. Jonas trank Kakao dazu, natürlich mit frischer Kuhmilch zubereitet. Nach dem Frühstück stand Jonas‘ Papa auf, küsste seine Frau und sagte dann: „Ich muss wieder in den Stall. Es muss noch gemistet werden und frisches Heu eingestreut. Bis später ihr Lieben.“ Der Vater zog sich wieder seine Jacke an, öffnete die Tür, drehte sich noch einmal um, winkte und ging dann hinaus.
      „Mama, darf ich draußen spielen gehen?“ „Ja. Aber zieh dich warm an, vergiss nicht Handschuhe und Mütze. Und geh nicht zu weit vom Haus weg.“ „Okay Mama.“ Jonas zog sich seine dicke Winterjacke an, die gefütterten Stiefel, die dicke Wollmütze und die gefütterten Handschuhe. So ausstaffiert marschierte er dann nach draußen, holte seinen Schlitten aus dem Schuppen, stellte sich vor das Haus und rief: „Rudi!“
      Jonas brauchte nicht lange zu warten, denn kurz darauf kam Rudi in einer Schneewolke angerannt. Rudi war der große Berner Sennenhund der Familie und Jonas‘ bester Freund. Der Junge befestigte die Schnur seines Schlittens am Geschirr des Hundes. So wie er es schon im letzten Winter gemacht hat. Und dann zog Rudi los. Für den kräftigen Hund war es kein Problem, den Jungen mit dem Schlitten hinter sich zu ziehen. Wenig später erreichten sie den Wald. Es war still. Der Wind rauschte leise durch die Bäume, manchmal zwitscherte ein Vogel. Aber alles war gedämpft, jedes Geräusch war viel leiser, als noch vor einem Tag. Jonas bat Rudi anzuhalten. Der Hund blieb stehen. Und der Junge genoss die Atmosphäre. Die Sonne schien auf den Schnee und alles glitzerte.
      Jonas blinzelte. Was war das? Blitzte da nicht etwas rotes auf? Der Junge deutete in die Richtung und bat den Hund dorthin zu gehen. Der kluge Berner Sennenhund begriff und setzte sich in Bewegung. Etwa hundert Meter weiter ließ Jonas den Hund stoppen. Rudi setzte sich hin und Jonas traute seinen Augen kaum. Da vorn standen Rentiere. Der Junge zählte neun Stück. Sie trugen Geschirre. Jonas war verwirrt. Er stand von seinem Schlitten auf und befahl Rudi sitzen zu bleiben. Dann schlich er sich näher heran, immer in Deckung eines Baumes. Hinter den Rentieren stand noch etwas. Ein großer Schlitten. Da, es blitzte wieder rot auf. Jonas schüttelte den Kopf. „Das ist doch unmöglich.“, dachte er. Denn was da rot blitzte, das war das erste Rentier. Es hatte eine leuchtend rote Nase. Das kannte er aus Büchern, aber er glaubte gar nicht mehr an den Weihnachtsmann, denn im letzten Jahr hatte er herausgefunden, daß der Weihnachtsmann sein verkleideter Vater war. Und da haben ihm die Eltern erzählt, daß es den Weihnachtsmann gar nicht gibt. Und doch stand da jetzt ein Schlitten mit neun Rentieren, genauso wie in seinen Bilderbüchern. Das fand Jonas sehr merkwürdig. Er schlich sich noch näher heran. Da bewegte sich doch jemand. Der Junge schaute angestrengt in die Richtung. Tatsächlich, die Person hatte sich umgedreht und er konnte sie jetzt richtig sehen. Es war ein bärtiger Mann in einem roten Wintermantel mit weißen Pelzbesetzen. Genau wie in seinem Bilderbuch. Der Mann kümmerte sich um ein Rentier. Er befühlte das Bein. „Hat sich das Tier vielleicht verletzt?“, überlegte Jonas.
      Dann ging der Mann wieder zu dem Schlitten, setzte sich hinein und gab ein Kommando. Das hat Jonas aber nicht verstanden, weil er immer noch recht weit weg war. Die Rentiere setzten sich in Bewegung und zogen den Schlitten an. Der Junge hörte leise Glöckchen klingeln und blickte dem kleiner werdenden Gefährt nach. So schnell er nur konnte rannte er zu seinem Schlitten zurück, er setzte sich darauf und rief: „Los Rudi, hinterher!“ Der Hund bellte wie zur Bestätigung und rannte los. Jonas folgte den Schlittenspuren.
      „Stopp!“, rief Jonas plötzlich. Rudi blieb sofort stehen. Der Junge stieg von seinem Schlitten herunter und blickte ungläubig auf den Boden. Die Schlittenspur hörte einfach auf. Keine Hufspuren, keine Spuren der Kufen. Nichts. Das verstand Jonas überhaupt nicht mehr und war verwirrt. Ja, vielleicht sogar ein bisschen ängstlich, aber das wollte er nicht zugeben. Jonas streichelte Rudi nachdenklich und sagte zu ihm: „Das wird uns niemand glauben!“ Der Berner Sennenhund brummte nur, wie zur Bestätigung.
      Der Junge setzte sich wieder auf seinen Schlitten. „Ich will nach Haus.“, sagte er zu Rudi.
      Der Hund verstand und trabte nach Hause.

      © Falko Mann 11/2018






      Frohe Weihnachten und Friede auf Erden