Dialoge

      Dialoge sind wirklich, wirklich schwer.

      Sind sie einmal geschrieben, werden sie daran gemessen, ob sie authentisch sind.
      Sind sie zu authentisch, hören wir oft: meine Güte, sind die unrealistisch. So redet doch keiner.
      Dem einen sind die Dialoge zu gekünstelt, dem anderen zu verkorkst.
      Aber heute soll es uns um eine andere Facette gehen: Dialoge charakterisieren.
      Auf den ersten Blick erscheint uns dieser Satz bestimmt einleuchtend. Jemand, der jeden Satz mit "oder nicht?" endet, ist garantiert introvertiert. Männer, so die Statistik in der Linguistik, verwenden gern häufig Substantive und Frauen haben ein größeres Repertoire an Adjektiven. Schreiben wir einen Dialog, müssen wir uns in die Gendersprache hineindenken und uns darum bemühen, der gehörten Realität gerecht zu werden.
      Aber es gibt da noch eine Sache, die Dialoge sehr gut können: das Verhältnis der Dialogpartner zum Ausdruck bringen.

      In der Kommunikationstheorie unterscheidet man grundsätzlich zwei Arten von Dialogen: Symmetrische und Asymmetrische Dialoge.
      Symmetrisch ist ein Dialog, wenn die Gesprächspartner einer gleichgestellt sind. Dies kann hierarchisch sein (zwei Manager, Eheleute, Eltern, zwei beste Freundinnen, zwei Arzthelferinnen, etc.), dies kann sozial sein (zwei Jungs von der selben Gang, zwei Adlige, etc.)
      Symmetrische Gespräche sind oft einander angepasst. Gesprächspartner B und A sind gleichermaßen dominant.
      Asymmetrische Gespräche dagegen leben von der Dominanz eines Gesprächspartners. Diese Gespräche sind die dynamischeren. Die Asymmetrie kann auch hier hierarchisch herrschen (Manager zu Angestelltem, Vater zu Sohn, Ehefrau zu beim Fremdgehen erwischter Mann [moralische Hierarchie], etc.) es kann aber auch eine Asymmetrie in der sozialen Schicht herrschen (Gangmitglied zu Bankmanager, Pretty Woman zu Richard Gere, Tambourmajor zu Woyzeck, etc.).

      Bei Asymmetrien lebt der Dialog davon, dass einer den Ton angibt und der andere auf das Gespräch nur reagiert. Wir wollen uns das mit einem kurzen Beispiel verdeutlichen:

      "Hey, wo willst du hin?"
      "Ich hab gedacht, ... hast du nichts gehört?"
      "Setz dich, Jerry. Es ist nichts."
      "Ok, wie du meinst."
      "Wir müssen sowieso reden. Es geht um Liza."
      "Hat sie mit dir geredet?"
      "Jerry. Ich möchte, dass du ganz ehrlich zu mir bist. Ich mag es nämlich nicht, wenn ich angelogen werde. Verstehst du? Ja? Ok. Ich frage es dich jetzt nur einmal. Hörst du? Nur ein einziges Mal. Hast du Liza angetatscht? Denk darüber nach, bevor du antwortest. Du weißt, was auf dem Spiel steht."

      Wir sehen, dass A, die dominantere Person ist. Sie ist es, die das Gespräch führt, die einzige Figur, die Fragen stellen darf und Antwort erwartet. Als B im zweiten Satz versucht, die Dominanzrolle für sich zu beanspruchen ("hast du nichts gehört?") wird er anstandslos ignoriert und in die Schranken gewiesen. Es endet damit, dass A das alleinige Rederecht hat. Von Jerry selbst ist nichts mehr zu hören. Spannend wird es, wenn wir beobachten, wie Jerry darauf reagiert. In perfekter Asymmetrie wird er versuchen, seinem dominanten Gegenüber zu gefallen. Er wird also Worte wiederholen, die dieser eben selbst gesagt hat:

      "Ich bin ganz ehrlich. Liza, sie ... ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat. Ich würde sie doch nie antatschen, das weißt du doch."

      "antatschen" sollte jedem Leser auffallen, es ist ein höchst ungewöhnliches Wort, es klingt fast zu sehr nach authentisch und fast schon plump. Aber dadurch, dass Jerry das ungewöhnliche Wort sofort aufgreift, wird sein 'Schleimen' erst Recht deutlich. Den Versuch, den Jerry hier wagt, das Asymmetrie-Verhältnis aufzulösen, nennt man komplementäre Kommunikation. Das bedeutet, dass mindestens ein Gesprächspartner darum bemüht ist, das asymmetrische Gefälle aufzulösen. Wir können uns aber den Dialog einmal anschauen, wie Jerry das Gespräch für sich wieder gewinnen kann:

      "Halt die Fresse, Jerry. Ich weiß gar nichts mehr. Ich hab dir vertraut, die letzten Jahre. Wir haben eine Menge Scheiße durchgestanden, du und ich."
      "Verdammt richtig, Ben. Eine Menge Scheiße."
      "Aber wenn Liza sagt, dass du sie angefasst hast, ..."
      "Was hat sie dir denn gesagt, Ben? Was genau? Erinnerst du dich noch an die Geschichte mit Vic? Als ich mich damals um Vic kümmern musste, weil er Liza ins Auto gezerrt hat. Du hast gesagt: Jerry, mach, dass ich den Kerl nicht mehr ertragen muss. Glaubst du, ich will der nächste Vic werden?"

      Wir sehen, dass der Dialog sich dreht, die Dominanz scheint sich umzudrehen. Ben hat einen kurzen Augenblick der Schwäche und Ben weiß den auszunutzen. Er schlägt zu, als er Ben am verwundbarsten wahrnimmt, er wagt es sogar, ihn zu unterbrechen. Er wagt es mit der selben Technik, mit der Ben den Dialog begonnen hat: mit einer Frage. Und er hakt mit der Erinnerung ein, mit der Ben eben noch versucht hat, Jerry ein schlechtes Gewissen zu machen. Auf einmal wird klar, noch während Jerry redet, ohne unterbrochen zu werden, dass jetzt seine Zeit gekommen ist. Er versucht, der moralisch Überlegene zu werden, indem er die Freundschaft als ein "Ich würd alles für dich tun" darstellt.

      Dialoge leben von diesem Dominanzspiel. Ein Dialog, der rein symmetrisch läuft, mag durchaus charmant sein, spannend wird er dadurch selten. Erst, wenn die Asymmetrien deutlich werden, beginnt sich der Leser für den Dialog und die Figuren zu interessieren.
      An welcher Stelle man die Asymmetrien einsetzen lässt, ist eine Frage des Timings. Aber schaut selbst:

      "Tom? Tom? Bist du das? Verdammt Tom, welcher Wind treibt dich denn hier her?"
      "Na, da brat mir doch einer einen Storch. Wenn das nicht der alte Lars Tischler ist."
      "Wir haben uns echt ewig nicht mehr gesehen. Wie lange ist das jetzt schon her?"
      "Zwölf Jahre bestimmt."
      "Damals warst du noch mit ... wie hieß sie doch gleich ... Carmen?"
      "Wow, du hast 'ne verteufelt gute Erinnerung. Carmen. Ja."
      "Sag nur, sie hat dich sitzen lassen."
      "Das würdest du jetzt gern hören. Nein. Sitzen lassen, so kann man das nicht sagen. Es war ... anders."
      "Wenn ich nur etwas mehr Zeit hätte, verdammt. Wir könnten uns einiges erzählen, was in den letzten Jahren so passiert ist."
      "Ich glaube, wir würden gar nicht so viel reden, Lars."
      "Was hältst du davon, wenn wir uns heut Abend aufn Bier treffen? Ich hab in ein paar Stunden frei, wir ..."
      "Ein Bier klingt gut. Aber du solltest dir besser jetzt frei nehmen."
      "Sorry. No can do. Das Marketing hier macht sich nicht von allein. Weißt du, ich bin jetzt nämlich ..."
      "Nein, aber Tote machen sich von allein, Lars."
      "Was soll der Scheiß. Hier, sieh mal. Ich zeig dir ..."
      "Lars. Lars! Sieh mich an. Sieh mir in die Augen. Hörst du mir zu? Ja?"
      "Du, hör mal, ich ..."
      "In dieser Halle ist eine Bombe versteckt, Lars. Eine Bombe, die entweder alle hier töten kann oder nur einen. Dich. Und glaub mir, ich würde nur ungern sehen, dass außer dir noch ein paar Unschuldige draufgehen. Oh, sieh nur, ein Kunde. Ich rate dir, die Frau mit ihren zwei Kindern abzuwimmeln. Wir beide haben ein paar Worte zu wechseln. Und ein Bier könntest du jetzt wirklich gut gebrauchen."

      An welcher Stelle begann der Dialog zu kippen? War es zu früh, zu spät? Welche Signale gab es schon vorher?