Anne Frank




      Ich war vierzehn als ich Anne Franks Tagebuch zum ersten Mal in der Hand hielt.
      Es war ein Hardcoverbuch. Ein roter Schutzumschlag. Darauf abgebildet: Anne Frank, ein kleines, scheu lächelndes Mädchen in einer Schulbank sitzend. Mit dem Rücken zur Wand. Brav ein Buch aufgeschlagen, einen Stift in der rechten Hand haltend. Bestimmt ist es ein gestelltes Bild zur Einschulung.
      Mein erster Impuls damals war: ich wollte das Buch unbedingt lesen. Aber nicht, weil es etwa faszinierend aussah. Es war vielmehr, dass wir in der Schule sehr viel mit dem Thema Nationalsozialismus konfrontiert worden waren und der einzige Name, der auf eine ganz andere Art als alle anderen Namen ausgesprochen wurde, der dieses Mädchens war.
      Der Klang hatte, so wie die Lehrer sie damals aussprachen, immer etwas sehr Tiefes und Trauriges. Ich wusste damals, bevor ich das Buch las, nur ein paar wenige Dinge:
      Anne hatte von 1942 bis 1944 Tagebuch geschrieben.
      Sie war auf der Flucht vor den Nazis gefasst und deportiert worden.
      Sie war in Bergen-Belsen ums Leben gekommen.
      Sie war nur ein Kind mit einem Tagebuch.
      Ich las im Vorwort, dass Anne Frank zunächst immer nur für sich selbst geschrieben hatte. Dann aber hatte sie in einer verbotenen Radiosendung gehört, dass wenn der Krieg einmal vorbei wäre, man alle Dokumente über das Leben und Leiden der Juden in Deutschland sofort veröffentlichen müsse. Vor allem Tagebücher. Und dann ging dieses Mädchen hin und nahm ihre eigenen Aufzeichnungen und arbeitete sie um. Sie gab den Personen Pseudonyme, weil sie niemanden verletzen oder kränken wollte. Sie fügte einiges aus der Erinnerung hinzu, wovon sie glaubte, dass es rückblickend wesentlicher wäre, es der Nachwelt mitzuteilen.
      Sie hat immer Journalistin werden wollen, verriet sie dem Tagebuch. Wollte etwas Veränderndes, Bleibendes schaffen.
      Nebst lebensnahen Skizzierungen des Fluchtalltags, zeichnet Anne Frank auch ein sehr reifes philosophisches Weltbild.

      "Ein Bündelchen Widerspruch" Das ist der letzte Satz meines vorigen Briefes und der erste von meinem heutigen. "Ein Bündchen Widerspruch", kannst Du mir genau erklären, was das ist? Was bedeutet Widerspruch? Wie so viele Worte hat es zwei Bedeutungen, Widerspruch von außen und Widerspruch von innen. Das erste ist das normale "sich nicht zufriedengeben mit der Meinung anderer Leute, es selbst besser zu wissen, das letzte Wort zu behalten", kurzum, alles unangenehme Eigenschaften, für die ich bekannt bin. Das zweite, und dafür bin ich nicht bekannt, ist mein Geheimnis.
      Ich habe Dir schon öfter erzählt, dass meine Seele sozusagen zweigeteilt ist. Die eine Seite beherbergt meine ausgelassene Fröhlichkeit, die Spöttereien über alles, Lebenslustigkeit und vor allem meine Art, alles von der leichten Seite zu nehmen. Darunter verstehe ich, an einem Flirt nichts zu finden, einem Kuss, einer Umarmung, einem unanständigen Witz. Diese Seite sitzt meistens auf der Lauer und verdrängt die andere, die viel schöner, reiner und tiefer ist. Nicht wahr, die schöne Seite von Anne, die kennt niemand, und darum können mich auch so wenige Menschen leiden. (...) Es schluchzt in mir: Siehst du, das ist aus dir geworden: schlechte Meinungen, spöttische und verstörte Gesichter, Menschen, die dich unsympathisch finden, und das alles, weil du nicht auf den Rat deiner guter Hälfte hörst. Ach, ich würde gern darauf hören, aber es geht nicht. Wenn ich still oder ernst bin, denken alle, dass das eine neue Komödie ist, und dann muss ich mich mit einem Witz retten. Ganz zu schweigen von meiner eigenen Familie, die bestimmt glaubt, dass ich krank bin, mir Kopfwehpillen und Beruhigungstabletten zu schlucken gibt, mir an Hals und Stirn fühlt, ob ich Fieber habe, mich nach meinem Stuhlgang fragt und meine schlechte Laune kritisiert. Das halte ich nicht aus, wenn so auf mich aufgepasst wird, dann werde ich erst schnippisch, dann traurig, und schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden."

      Mit diesem Eintrag endet das Tagebuch.
      Sie wurde gefasst, deportiert und getötet.
      Anne Frank wurde sechzehn Jahre alt.
      In diesem Jahr wäre sie 90 geworden.
      Wenn ...
      Ja wenn keine anderen Menschen auf der Welt gelebt hätten.





      Anmerkung:

      Die Bilder zeigen Anne Frank im Alter von etwa 14 Jahren.
      Die historischen Aufnahmen finden sich im Großformat, neben vielen anderen Dingen aus dem Nachlaß der Familie, im Anne-Frank-Haus zu Amsterdam.

      Anne Frank Haus
      Westermarkt 20
      1016 DK Amsterdam

      Webseite des Anne-Frank-Hauses
      Die gute alte Anne Frank. Auch ich habe das Tagebuch gelesen.
      Am Anfang war es noch feucht fröhlich, gegen Ende war es ziemlich erdrückend.
      Ich frage mich, wer sie verraten hat?
      Ich habe bereits die wildesten Spekulationen gelesen.
      Letzten Endes schien nur Zufall gewesen zu sein, dass sie entdeckt worden sind.