Der grüne Karton

      Der grüne Karton



      Er könnte kotzen.

      Der ganze Keller war vollgestellt. Diese Ansammlung von Sinnlosigkeiten, für die oben kein Platz mehr in der Wohnung war, war trauriges Zeugnis von jahrelangem Aufschieben, gepaart mit messiehafter Sammelwut und keiner Lust aufzuräumen.

      Hinter den Kartons mit teurem Rotwein, Waschmitteln in Family-Größe, Kinderkleidung in allen Qualitäten und Größen und einem großen Sack Pflanzenerde hatte er sofort die grüne Kiste mit der Weihnachtsdekoration entdeckt. Nun musste er nur einen Weg bis dorthin finden. In diesem lächerlich großen Pappkarton sind damals Klamotten für die Kinder angekommen, danach diente er nur noch für die Aufbewahrung von Dekoration. Nicht zu verwechseln mit dem Monsterkarton von Osterdeko. Er musste lächeln, gleichzeitig schnürte sich ihm die Kehle zu und Tränen stiegen auf.

      Umständlich kämpfte er sich durch den Kellerkrempel und zog den grünen Karton zu sich heran. Genervt hievte er ihn zur Tür und trug ihn die 24 Stufen hoch. Diverse Sets von Baumkugeln, Lichterketten, selbstgebastelten Anhängern der Kinder und sonstiger Nippes fanden sich hier wieder. Es wurde von Jahr zu Jahr mehr, obwohl man alles schon hatte und nichts neues mehr kaufen wollte. Als sie ursprünglich hergezogen waren, hatte er sich vorgenommen, diesen Keller nicht zumüllen zu wollen und alles zu katalogisieren, was sich hier befand. Nun zählte das zu den Erinnerungen, die sich nicht wie die eigenen anfühlten und Zeugnis eines kinderlosen Lebens waren. Das musste drei Leben her sein.
      Mit Ordnung hatten sie es seitdem nicht so. Generell gab es ein Leben vor und mit den Kindern, und das war gut so und er fand sich an den meisten Tagen gut in dem Chaos zurecht.

      Natürlich gab es auch gute Phasen, in denen alles reibungslos funktionierte und regelmäßig sauber gemacht wurde, mit Böden wischen und so. Heute war auch so ein guter Tag und seine Aufgabe bestand darin, noch mehr Kleinteile in die Wohnung zu schleppen, die die Kinder in alle Ecken tragen könnten. Paradox eigentlich.

      „Hol' schon mal den Karton mit der Weihnachtsdeko bitte, ich wische eben schnell durch.“
      Diskutieren war sinnlos, das wusste er, auch dass er nachher noch das Altglas und Papier wegbringen würde, klar. Wie ist die Zeit so schnell rumgegangen, eben war doch noch Sommer und jetzt stand der erste Advent vor der Tür. Er versuchte sich an dieses Lied zu erinnern, mit den Toren oder Türen, ach egal. Es war erschreckend, wie er sich klammheimlich in seine eigenen Eltern verwandelt hatte und sich so Sätze sagen hörte wie „Wo ist die Zeit nur geblieben?“, „Die Zeit ist wieder so schnell verflogen“, obwohl er der festen Überzeugung war, dass das nicht stimmte.

      Jeder hat 24 Stunden am Tag zur Verfügung, jeden Tag, 7 Tage die Woche.
      Was man mit seiner Zeit anstellt, bleibt einem selbst überlassen. Wir nutzen sie nur unterschiedlich intensiv, füllen sie mit sinnvollen oder wenigen ergiebigen Beschäftigungen, arbeitend oder nichts, wie auch immer. Sie würde heute den Rest den Tages nutzen, um die Wohnung in ein rot-weiß-tannengrünes, glitzeriges, viel zu übertriebenes Weihnachtsparadies zu verwandeln, das unmissverständlich sagt „Wir freuen uns auf die nächsten Wochen.“ Von Jahr zu Jahr wurde das exzessiver, fing früher an und nervte ihn nur noch mehr.

      Er wusste, sie würde auch dieses Jahr vor dem ersten Advent damit anfangen, nur dieses Mal halt zum letzen Mal.

      ©Kristina Muse 11/2019