Plötzlich Weihnachten

      Plötzlich Weihnachten



      Das Kettenfahrzeug bremste mitten im Schneesturm, irgendwo im Nirgendwo von reinem Weiß. Eine
      Gestalt löste sich aus der Ladeluke des wartenden Gefährts, schulterte ihr Gepäck und trat hinaus
      in das Gestöber.
      Der Gesichtsausdruck war hinter einer riesigen Schneebrille und einem alles vermummendem Schal
      nicht zu erkennen. Dennoch machte der Reisende einen ratlosen Eindruck, als der Antrieb des
      Transportgefährts stotternd röhrte und sich die Mitfahrgelegenheit wieder in Bewegung setzte.
      Er zurrte den Rucksack fest an sich, als hätte er vor, eine längere Strecke mit Gepäck zu wandern,
      stellte sich dann jedoch einfach an Ort und Stelle auf und schaute bewegungslos ins Nichts. Die
      Minuten vergingen und der Unbekannte schaute sich um, erst nur in eine Himmelrichtung, dann in alle
      vier, immer häufiger. Plötzlich begann sich der Schnee, keine zehn Meter links von ihm, zu bewegen
      und kurz darauf erschien eine verschlossene Liftkabine aus den Pulverschneemassen. Die stählernen
      Schiebetüren öffneten sich und gaben bereitwillig den Blick auf das beleuchtete Innere frei. Der
      Wartende setzte sich unverzüglich in Bewegung, vielleicht mit der Befürchtung, dass sich der Ausweg
      aus der Kälte sogleich wieder verschwinden würde, wäre er zu langsam. So betrat er die Kabine,
      welche sich sofort wieder schloss und im darunterliegenden Aufzugschacht versank. Die entstandene
      Öffnung verschneite binnen Sekunden wieder, als hätte sie nie existiert.
      Der Lift machte sich derweil mit seinem Insassen auf, in die Tiefen unter der gefrorenen
      Landschaft, glitt lautlos durch seinen schnurgeraden Schacht und erfreute sich daran wieder einmal
      fahren zu dürfen, denn viel wurde er derzeit nicht genutzt.
      Sein Fahrgast schaute sich derweil fragend in seinem blankpolierten Inneren um, wo sein Spiegelbild
      sich im glatten Metall, beidseitig bis in die Unendlichkeit fortsetzte.
      Das Summen des Aufzugantriebs endete überraschend schnell und die Türen des Etagengefährts glitten
      kurz darauf lautlos auseinander.
      Dahinter stand, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet, ein alter Elf in Arbeits- Overall
      und erwartungsvoller Pose, reichte ihm sogleich die Hand und sagte:
      „Wilkommen. Tritt doch ein. Ich zeige wo du deine Jacke ablegen kannst und dann bringe ich dich zu
      ihm.“
      Noch keine Worte findend, folgte der Fahrstuhlbenutzer dem alten Männlein, durch einen kleinen Flur
      mit einem unbesetzten Empfang.
      „Wir bekommen nicht oft Besuch. Deswegen ist niemand für diesen Posten fest abgestellt“, sagte der
      Elf nun und deutet dabei auf den Tresen. Links daneben befand sich eine große Doppeltür auf der in
      roten Lettern „Schleuse Arbeitsbereich“ zu lesen war. Im Raum dahinter befanden sich, ordentlich in
      20er Blocks angeordnet, an die hundert Spinde in einem großen quadratischen Raum, rechts und links
      davon Duschkabinen.
      „Nimm einen der Gästespinde für deine Jacke, darin befindet sich ein Besucher-Overall und
      Sicherheitsschuhe. Bitte beides anziehen.“
      Der Angesprochene tat wie ihm geheißen und folgte dann umgezogen dem greisen Besucherführer durch
      die nächste Tür.
      Es handelte sich um die bereits angekündigte Schleuse, welche nach ihrem Betreten versiegelt und
      mit weißen Qualm geflutet wurde. Kurz darauf leuchtete ein Schild mit der Aufschrift DEKONTAMINIERT
      auf und die Türen entriegelten wieder.
      „Reine Vorsichtsmaßnahme“, kommentierte der Elf, „Im Winter ist es hier so kalt, da bringt ihr
      garantiert nichts Lebendiges von draußen mit herein.“
      Die Mimik des Gastes, welche bereits in der Umkleidekabine leichte Anzeichen der Verwunderung
      gezeigt hatte, addierte jetzt mehr und mehr Falten der Verwirrung hinzu, um nach dem Durchschreiten
      der nächsten Tür in höchstes Erstaunen zu kollabieren. Das greise Männlein und er befanden sich nun
      in einer riesigen Felsenkuppel, mit einer Höhe von gut 100 Metern. Rechts und links von ihnen
      führte eine Rundweg um eine Art Vulkankrater herum, dessen Durchmesser unser Gast nicht zu schätzen
      vermochte, konnte er doch nicht mal die gegenüberliegende Seite des gewaltigen Loches sehen. Der
      Krater befand sich im Zentrum der gigantischen Halle und war von einer kolossalen
      Glaskuppel überdacht. Diese war nicht viel weniger hoch als die Felsenkuppel selbst.
      Innerhalb der Glaskuppel waberte neblig, weißes Licht von unten empor, dass sich
      gelegentlich in der gläsernen Überdachung brach und dabei kleine Reflexe in
      Regenbogenfarben an die Höhlendecke projizierte.
      „Hier entlang, bitte.“, sagte das Männlein, offensichtlich unbeeindruckt vom statt findenden
      Spektakel. „Sein Platz ist auf der anderen Seite.“
      Erst jetzt sah der erstaunte Neuling, dass sich um die gesamte Kuppel herum
      Arbeitsplätze, an flackernden Bildschirmen, komplizierten Messanzeigen mit
      umfangreichen Tastaturen befanden. Nicht alle Plätze waren besetzt. Hin und wieder eilte
      ein overall-bekleideter Mitarbeiter an ihnen vorbei, setzte sich an einen freien Platz, glich
      flüchtig Werte mit heraus gekramten Notizen ab und verschwand dann wieder.
      Gelegentlich schnappte der Herumgeführte Aufrufe wie: „Weißabgleich nahe Null“ oder
      „Dauer des Abdriftung 0,05 Millisekunden“ über die Sprechanlage auf, wusste diese
      jedoch nicht zu deuten.
      Dann schrillte eine Alarmsirene und eine blecherne Stimme verkündete eine geforderte
      Aufmerksamkeit der Pulte 22 bis 48, denn die möglichen Eingriffspunkt wären soeben
      flüchtig lokalisiert worden und sollten nun schnellst möglichst erfasst werden. Derweil
      waren der Alte und sein Gast bei einer Treppe zu einem erhöhten Plateau angekommen.
      Oben befand sich eine runde Ebene von 5 Metern Durchmesser, in dessen Mitte eine
      bärtiger Mann mit einer elektronischen Apparatur auf dem Kopf, auf einem Drehstuhl vor
      einer Bedienkonsole saß.
      „Okay, alle ganz ruhig bleiben.“, verkündete der Bärtige gerade, welcher zudem auch
      ziemlich fett war, wie unser unbekannter Ankömmling fand, „Gebt mir eine 12er und eine
      48er Linse und positioniert sie auf 3,9 und 48,7 Grad, jeweils im dritten Ring. Die 12er
      bekommt zur Feinjustierung noch einen 0,75er Kristall drüber platziert und dann heißt es
      abwarten was die nächsten Messwerte ergeben. Eventuell haben wir es gleich geschafft.“
      „Herr?“, meldete sich der faltige Elf zu Wort, „Herr! Der Neuling ist eingetroffen.“
      „Was? Wie?“, rollte die Stimme des Dicken sogleich, „Heute schon kurz vor Abschluss?
      Hohoho! Ich dachte, er fängt erst im neuen Jahr an, damit wir ihn in der Nebensaison in
      Ruhe einarbeiten können.“
      „Nein, Herr. Er ist bereits jetzt hier. Bestand praktisch darauf.“
      Der beleibte Mann nahm die elektronische Apparatur vom Kopf. Darunter kamen ein Paar
      himmelblaue Augen, untermalt von kleinen Lachfalten und überdacht von puscheligen
      weißen Augenbrauen zum Vorschein. Sie wohnten in Gesellschaft einer leicht geröteten
      Stupsnase.
      „System auf Autopilot. Alle Auffälligkeiten werden mir unverzüglich mitgeteilt!“, sagte der
      Besitzer der Rotnase in sein Headset, dann legte er den Apparat beiseite und erhob sich
      aus seinem Sessel.
      „Soso“, begann er mit sanfter Stimme zu reden, „Du bist also der neue Elf im Team, der so
      kurz vor Weihnachten noch bei mir anfangen will? Ziemlich gewagt. Findest du nicht?“
      Der Neuankömmling räusperte sich um zu seinem ersten gesprochenen Wort anzusetzen.
      Also sein erstes Wort in dieser Geschichte, nicht seit Beginn seiner Existenz:
      „Ja, ähm, Herr. Ja, das bin ich. Allerdings bin ich mir, in Anbetracht des unerwarteten
      Erscheinungsbildes dieses Ortes, bei meiner Entscheidung gar nicht mehr so sicher.“
      Der Dicke lachte: „Hohoho, hast du das gehört, Heinrich? Er hat etwas anderes erwartet.“
      Der alte Elf verzog keine Miene. „Geh nur, Heinrich. Lass mich mit unserem Gast allein.
      Wir müssen ein wenig plaudern.“
      Der Greis verneigte sich wortlos und verschwand mit wenigen Schritten außer Sichtweite.
      „Nun denn. Kommen wir doch erst einmal zu deinem Namen. Schließlich will ich dich nicht
      die ganze Zeit mit ´Neuling´ anreden müssen und danach erklär mir doch, was genau du
      hier erwartet hast?“
      Der Neuling, der jetzt in Begriff war seine Beschreibung mit der Nennung seines Namens
      zu ändern, räusperte sich nervös: „Rupert, Herr. Der Name ist Rupert und erwartet hätte
      ich, nun ja ...“, es folgte eine kurze Pause, welche anscheinend einer Überlegung der
      nächsten Formulierung diente, „Versteht mich nicht falsch, Herr. Ich bin nur ein
      gewöhnlicher Hauself. Nicht mehr, nicht weniger. Der gute Geist eines Hauses, wie man
      so sagt. 74 Jahre habe ich an dem letzten Ort meinen Dienst getan und nie gemurrt. 74
      Jahre lang habe ich verlorene Schlüssel wieder gefunden, vergessene Kaminfeuer des
      nachts gelöscht und unbemerkt kleinere Reparaturen jeglicher Art durchgeführt. Dann
      schenkte mir ein Freund ein Buch zum Geburtstag, in dem von einem Fest die Rede war,
      welches meine Hausbesitzer anscheinend nicht feierten und in diesem gab es Elfen. Aber
      keine Hauselfen wie ich einer war, sondern so genannte Weihnachtselfen. Kleine Helfer,
      welche Spielzeug bauten und ihrem Herrn am Weihnachtsabend bei der Auslieferung ihrer
      Machwerke an die Kinder halfen. Als ich das hörte, Herr, da begann etwas in mir zu
      klingen. Schon immer hatte ich die Spielzeuge der Kinder im Haus besonders gern
      repariert und von da an wusste ich, ich wollte ein Spielzeug-Elf werden. Also fragte ich
      mich durch. Schrieb Briefe an Vorgesetzte und am Ende den Hohen Rat selbst und holte
      mir so nach und nach alles nötige zusammen, um einen Kontakt zu euch herzustellen, um
      schließlich eine Versetzung zu beantragen. Jahrelang war keine Stelle frei, doch dann
      kam vor einigen Wochen der langersehnte Brief, dass bei euch ein Stellengesuch
      rausgegangen sei, auf welches ich mich nun persönlich vorstellen könne. Ein neuer Elf für
      mein Heim sei dazu auch noch gefunden worden. Die Sterne standen also, wie man so
      sagt, günstig.“
      „Das alles ist mir bekannt“, raunte die Stimme des Bärtigen jetzt in den Monolog hinein,
      „Und doch, dass worum ich dich bat, hast du mir noch nicht erzählt. Was sind das nun für
      Erwartungen gewesen?“
      „Spielzeug, Herr!“, sagte Rupert nun etwas aufgebrachter, „Wo ist das Spielzeug? In den
      Büchern ist eure Heimstätte beschrieben, als ein Holzhaus mit Werkstätten für Spielzeug.
      Ihr werdet meine Überraschung verstehen, als ich hierher kam und in diesen stählernen
      Fabrikkomplex geführt wurde.“
      „So so. Ja, Werkstätten. Spielzeug, ja.“, intonierte der Weißhaarige, wie zur Überprüfung
      der Sachlage, „Nun, junger Rupert. Ich verstehe eure Verwirrung. Denn mit einer Holzhütte
      voller Spielzeug hat dieser Ort nun wirklich wenig gemein. Lass es mich dir erklären. Aber
      vorher setz dich doch, denn es wird gewiss keine kurze Geschichte.“ Daraufhin drückte der
      Gastgeber auf einen Knopf seiner Konsole und vor Rupert fuhr eine Bodenplatte beiseite,
      aus der sich gleich darauf ein Hocker erhob.
      „Bitte, bitte, nehmt Platz. Ich habe leider nicht viel Zeit. Also kommen wir gleich zum Kern:
      Wie steht es so mit eurem Wissen über die Beschaffenheit von Realität?“
      Rupert verstand den Zusammenhang nicht.
      „Euer Blick spricht Bände, lieber Rupert. Ich muss also ganz von vorne anfangen.“
      „Nein Herr. Verzeiht. Ich hatte so eine Frage nur nicht erwartet. Als praktizierender Hauself
      sind mir die Grundlagen der Realitätsbildung durchaus klar. Am Anfang war Licht.“
      Bei diesem Satz straffte sich der kleine Elf als wollte er die Antwort würdevoll vortragen.
      „Und es ward immer das Licht. Reines Weiß. Bis es sich brach im Bewusstsein der
      Wahrnehmung. So begann es sich selbst wahrzunehmen. Reines Bewusstsein ohne Zeit
      und Raum, denn ...“
      „Verzeih, bitte. Ich finde es toll, dass du die gesamte Geschichte der Schöpfung Wort für
      Wort wiedergeben kannst, aber lasst es uns ein wenig abkürzen. Ihr wisst also von den
      Grundlagen und so kann ich hier ohne weiteres zum Punkt kommen“, ein kurzes
      Räuspern, „Am Anfang kam also alles aus dem weißen Licht. Als dieses sich im
      Bewusstsein brach entstand die Realität in all ihrer Pracht, mit dem altbekannten Knall.
      Farben, Klänge, Gerüche, Materie und so weiter. Alles hat den gleichen Ursprung. Somit
      auch dieser Planet. Dieser Ursprung ist in jedem Lebewesen noch immer enthalten. Das
      weiße Licht durchfließt alle. Jeden Menschen, jedes Tier, auch dich und mich. Durch unser
      Bewusstsein wird unsere äußere Erscheinung geformt, bei den meisten natürlich
      unbewusst. Das Licht bestimmt dabei nicht nur das Aussehen, sondern auch unseren
      Zustand in Raum und Zeit und die derzeitige Wahl der gewünschten Realitätsebene. Das
      heißt: Wird beispielsweise das Licht eines Menschen verändert, vielleicht die Wellenlänge
      oder die Frequenz, so verändert sich schlagartig auch seine erlebte Realität oder gar sein
      Äußeres.
      Das was ihr hier seht“, dabei deutete er zu dem riesigen Loch unter der Glaskuppel, „Ist
      das Licht des Lebewesens Erde.“
      Ruperts Kinnlade machte einen Ausflug in Richtung Fußboden und glotzte ungläubig.
      „Das Licht der der der Erde?“, fragte er ungläubig, „Das alles enthaltende Licht?“
      „Ja, junger Rupert. Das ist es. Wäre dies das Licht eines Menschen, wären wir hier direkt
      unter seiner Schädeldecke, am Austrittspunkt. Hier durchdringt das Licht die
      Erdoberfläche und bricht sich an der Realität. Die Menschen nennen es nachts Nordlicht,
      halten es allerdings für ein Phänomen der Sonne.“
      „Und was tut ihr hier?“, fragte der Rupert aufgebracht, „Verzeiht meine Ungeduld, Herr.
      Aber ihr habt mir immer noch nicht erklärt, wie ihr hier eure Arbeit macht?“
      „Ach ja, das Spielzeug. Nun gut. Wisst ihr wie viele Kinder es auf der Welt gibt?“
      „Ähm, ja nein. Vielleicht so ...“
      „Zwei Milliarden“, unterbrach ihn der Wissende.
      „Zwei Milliarden Kinder, die auf Geschenke warten, alle am gleichen Abend. Nun ja, nicht
      alle warten auf mich, denn Weihnachten ist nur Teil des christlichen Glaubens. Aber selbst
      nur alle jungen Christen zusammen, sind immer noch 500 Millionen Kinder. Verrate mir
      junger Rupert, welches Gefährt 500 Millionen Geschenke transportiert und wie schnell es
      fliegen müsste, um alle Kinder in einer Weihnachtsnacht zu beliefern.“
      Der Elf schwieg.
      „Lass uns die utopischen Zahlen gleich beiseite lassen, denn weder besitze ich 300 000
      Rentiere für den Transport einer so gewaltigen Geschenkelast, noch pflege ich mit
      Lichtgeschwindigkeit zu reisen. Fakt ist: Diese Sage des schlittenfahrenden
      Weihnachtsmannes stammt aus meinen Anfangstagen und selbst da belieferte ich nur ein
      paar tausend Kinder innerhalb mehrerer Wochen. Doch irgendwann war eine Alternative
      gefragt. Über die Entstehung dieser Station werde ich euch später aufklären, aber sie ist
      die einzig Möglichkeit um zu vollbringen, was alle Legenden besagen. Nämlich die
      Geschenke aller Kinder in einer Nacht zu bringen.“
      „Und wie, Herr?“, die junge Zuhörer rutschte nun unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
      „Über das Licht, Junge.“, erwiderte der Mann der Weihnacht, „Wir verändern mit unserer
      Anlage die Realitätslinie dieses Planeten. Denn irgendwo in den unendlichen
      Möglichkeiten der Zukunft dieses Erdballs, gibt es die eine Möglichkeit einer Realität, in
      der alle Kinder gleichzeitig ihr passendes Geschenk bereits erhalten haben. Das ganze
      Jahr analysieren wir das innere Licht der Erde und suchen nach dem richtigen
      Eingriffpunkt. Dem Punkt an dem wir unsere Linsen einsetzen, um die Realität des
      Planeten anders zu brechen, als es vorgesehen war. So lenken wir die passende
      Wirklichkeit in unsere Gegenwart und binnen Sekunden tritt diese dann ein.“
      Rupert nickte stumm.
      „Jetzt schaut nicht so verdattert. Anders ist dieses Wunder leider nicht möglich. Es ist
      schon schwierig genug, immer innerhalb der besagten Zeitzonen zu agieren, damit
      England seine Geschenke nicht schon zusammen mit Neuseeland bekommt.“
      „Ihr ...“, begann der neue Angestellte zögerlich, „Ihr ...“
      „Herr, wir haben fünf mögliche Stränge entdeckt!“, quäkte eine Stimme aus dem Headset.
      „Ich hab zu tun. Entschuldige mich“, sagte der Alte kurzerhand, dreht sich in seinem Stuhl
      um und setzte seinen Apparat wieder auf.
      „Sehr gut“, fuhr er jetzt fort, „Schaut auf den Bildschirm, junger Rupert. So lernt ihr gleich
      etwas dazu.“
      „Ihr ... kein Spielzeug“, stotterte Rupert, „Spielzeug.“
      „Rupert? Schnell, schau hier. Wir haben vor etwa einer Woche die Wellenlänge der
      diesjährigen benötigten Realität fertig berechnet und nun gleichen wir diese mit diesen fünf
      Lichtsträngen ab, die herausgefiltert wurden.“
      „Das kann doch nicht ...“, der kleine Elf war immer noch erschüttert, „Kein Spielzeug.“
      „Aha, der erste ist schon nah dran. Eine Realität in der wir durchaus alle Kinder beliefern
      könnten, allerdings wird dort auch zeitgleich die Welt von Außerirdischen angriffen. Die
      zweite Möglichkeit ist überhaupt nicht zu gebrauchen. Hier bekommen alle Kinder
      Geschenke, aber leider alle das gleiche. Bei Nummer drei werden alle Menschen auch
      noch zu Riesenfaultieren und in Nummer vier ... ja, Nummer vier könnte es sein. Gebt mir
      den großen Filterkristall und den Lupenschliff, schnell! Der Strang ist ein Springer. Einmal
      aus den Augen gelassen, fänden wir ihn tagelang nicht wieder.“
      „Rupert, Junge. Drück bitte auf den blinkenden gelben Knopf um den Strang festzusetzen
      und zwei Justierer, Pult 7 und 15, bringen mir bitte genau an die Stelle einen Leitstrahl.
      Der Sprung könnte etwas heftig werden. Alle anderen schnallen sich bitte an oder
      verlassen den Bereich nahe des Kraters.“
      „Kein Spielzeug. Kein Spielzeug“, der kleine Elf schien am Boden zerstört.
      „Rupert! Der gelbe Knopf! Ich kann die Brille grad nicht abnehmen, sonst verlieren wir ihn!
      Ist jemand anders in der Nähe? Schnell jemand zu meinem Pult!“
      „KEIN SPIELZEUG!“, mit einer theatralischen Armbewegung, als würde er gleich eine
      Musicalnummer beginnen, holte Rupert beidhändig aus, um danach mit erhobenen
      Händen und einem starren Blick zum Himmel auf die Knie zu fallen und dabei ein
      langgezogenes:“ NEEEEEEEIIIIN!!!“, von sich zu geben. Bei dieser bühnenreifen
      Vorführung, betätigte er unwissend mehrere Kontrollknöpfe gleichzeitig und verschob zwei
      sorgfältig eingestellte Regler vollkommen.
      „Oh nein. Nein! Was für eine gottverdammte ...“, weiter kam der Weihnachtsmann nicht,
      denn die nun extrahierte Realität schwappte in die unsere über. Wen es interessiert, es
      war eine Wirklichkeit ohne Geschenke, ja sogar ohne Weihnachten. Aber das war auch
      nicht mehr wichtig, denn zwei Augenblicke später kollabierte die Welt in ein Dasein aus
      elefantengroßen Piranha-Küken. Die neue herrschende Spezies auf der Erde.
      Das klingt jetzt nach einem schrecklichen Ende, oder? Gut, der Mensch war dahin. Aber
      immerhin ging mit ihm auch die Atomkraft, Krieg, Machtgier und der Beginn der
      Weihnachtssaison im September. Es war also nicht alles schlecht.
      Frohe Nicht-mehr-Weihnachten.

      © Timo Stoffregen, 12/2019