Hoffnungsglänzende Weihnachtszeit

      Hoffnungsglänzende Weihnachtszeit




      Das Weihnachtsfest steht unmittelbar bevor. Zum ersten Mal wird es kein Fest der Freude; ich erinnere mich.
      Wie ich die köstlichen Düfte mochte: gebrannte Mandeln und Lebkuchen, Zimt, Rum und Anis. Tagelang buk ich Stollen und Pfefferkuchen. Gebratene Äpfel, die gefüllte Gans mit Rotkohl. Beim Anblick der Leckereien leuchteten deine Augen. In ihnen spiegelten sich die Wärme der Kerzenflammen und deine Liebe.
      All das gehört der Vergangenheit an. Du bist fort. Obwohl ich dich so oft warnte, nicht vor mir zu gehen. Darauf hast du lachend geantwortet: »Wie sollte ich wohl ohne dich leben, Maria?«
      Wie soll ich es? In diesem Jahr bleibt die Weihnachtsdekoration sorgfältig verpackt im Keller, verborgen, aber unvergessen. Sie erinnert zu stark an dich, an die guten wie auch schweren Zeiten. Die Tannenbaumspitze hast du mir zum ersten Weihnachtsfest geschenkt. Auch mit dem inzwischen angeschlagenen Engel landete sie immer wieder auf dem Baum: Unser persönlicher Höhepunkt, der die Feiertage einläutete. Viel machten wir gemeinsam durch, konnten uns stets aufeinander verlassen, einer stützte den anderen. Jetzt bin ich allein und vermisse dich derart, dass mir oft die Luft zum Atmen fehlt. Du fehlst mir so sehr, Andrej!
      Kurz entschlossen floh ich vor dem Fest, habe den Kindern erklärt, ich könne Weihnachten unmöglich daheim verbringen. Ohne meinen Mann ist das Haus fremd, er hat es mit Leben erfüllt. Jedes Möbelstück ist mit Erinnerungen verknüpft, meist sind sie wunderbar. Doch alle versetzen mir einen schmerzhaften Stich, verdeutlichen den Verlust. Du bist nicht mehr da, hast mich einsam zurückgelassen. Manchmal hasse ich dich dafür, weiß jedoch, wie unsinnig dieses Gefühl ist. Du hattest keine Schuld am Unfall; nicht mal Zeit zum Abschied blieb …
      Nun stehe ich am Rand der Steilküste, am nördlichsten Zipfel von Rügen und blicke aufs Meer hinaus.
      Zu allen Jahreszeiten lohnt der Weg nach Kap Arkona. Wir kamen oft her, liebten die Aussicht und wir liebten einander hier oben, damals als junges Paar. Ein Bild erscheint vor meinem inneren Auge: Wir beide leidenschaftlich umschlungen im Gras, du küsst und streichelst mich zärtlich. Wir lauschen auf den Wind, der Stimmen heranträgt. Doch sie ziehen vorbei – genau wie die wunderbare Erinnerung; ich öffne die Augen und schaue mich um. Seltsamerweise bist du mir hier näher als irgendwo sonst, ich spüre weniger Traurigkeit, eher Zuversicht.
      Auf den Bäumen glitzert Raureif, Sonnenstrahlen brechen sich in den Eiskristallen und lassen jene wie Brillanten funkeln. Die Ostsee liegt wie ein Spiegel unter mir und verströmt Ruhe.
      Eine leichte Brise streicht über die Wasseroberfläche. Die Wellenkämme reflektieren das Licht, das glitzernde Gleißen blendet mich. Vor der Pracht muss ich die Lider schließen. Dann hebe ich sie wieder und erschaue – gefühlte tausend Meter tiefer – die Herrlichkeit des Vergessens.
      Unwillkürlich trete ich einen Schritt vor und verharre nahe dem bröckeligen Rand, wage keinen Blick mehr gerade nach unten, sondern richte die Augen auf den Horizont. Ohne meinen Mann umklammert die Höhenangst mich mit eisigen Klauen.
      Mir fällt ein anderes Ereignis ein, einige Jahre nach unserem frivolen Stelldichein auf den Klippen. Damals tobte ein Unwetter und ich wollte schnellstmöglich zurück ins Hotel. Doch Andrej hielt mich fest und deutete auf die regenschweren Wolken. »Wir lassen uns diesen Tag nicht vermiesen!«, brüllte er trotzig gegen den Sturm. Eine Böe rupfte mir den Schal vom Hals. Geschickt fischte er das bunte Tuch aus der Luft und schüttelte triumphierend die Faust.
      Der Rückblick bringt mich zum Lächeln. Das war Andrej: die Liebe meines Lebens. Stets kämpferisch und optimistisch, mein Halt zu jeder Zeit. Ohne ihn hat die Welt ihre Farbe verloren. Der berückende Anblick des blauen Himmels und der funkelnden Winterpracht prallt von meinem einsamen Herzen ab wie von einem Eisklumpen. Ich fühle mich allein und vom Frost zu einer reglosen Statue gefroren.
      Mühsam erfasse ich die Umgebung, denke dann an die Fahrt hierher. Es musste das Auto sein, obwohl ich in den vergangenen Jahren höchstens den Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen damit erledigte. Erfolgreich mied ich längere Strecken, genoss es, neben Andrej die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Vermutlich wollte ich mir selbst etwas beweisen, vielleicht auch meinem verstorbenen Gatten. Die ersten Kilometer zitterte ich vor Anspannung und vermied bewusst Autobahnen. Kleine Ortschaften, wunderschöne Alleen und unzählige Seen bannten die Aufmerksamkeit, ich beruhigte mich nach und nach; folgte vertrauensvoll der weiblichen Stimme des Navigationsgeräts.
      »Du und deine Kirchturmtouren!«, frotzelte Andrej oft im Bemühen, mich zum Autofahren zu bewegen. – Seine Witze fehlen mir! Früher schalt ich ihn oft einen närrischen Kerl. Ich liebe dich so sehr! Was soll ich ohne dich anfangen?
      Tränen rinnen mir übers Gesicht.
      Wir teilten fast unser ganzes Leben, ein glückliches, wenn auch kein leichtes. Im letzten Jahr feierten wir goldene Hochzeit. Damals führte Andrej mich ebenso geschickt wie in der Jugend beim Tanz und schwang die Hüfte dabei wie Elvis. Während des Abendessens meinte er: »Schatz, du hast da einen Fleck auf der Bluse!« Als ich nach unten blickte, schnippte er mir gegen die Nasenspitze und grinste wie ein Junge.
      Er brachte mich stets zum Lachen, egal was uns widerfuhr.
      Krampfhaft wische ich mir übers Gesicht und nähere mich der Steilküste weiter. Dort lockt der Strand, tief genug … Die Höhenangst weicht hinter der Sehnsucht zurück.
      Du fehlst mir so!
      Nieselregen setzt ein, vermischt mit winzigen Eiskristallen. Kühl netzen sie meine Wangen, sinken lautlos zu Boden. Ich trete von einem Bein aufs andere, lausche dem Rascheln des herabgefallenen, gefrorenen Laubes unter den Stiefelsohlen und beobachte das sachte Flockenspiel. Wassertröpfchen reflektieren das Sonnenlicht und zaubern einen bunten Farbenreigen in die Luft.
      Fasziniert verfolge ich, wie ein Regenbogen an Pracht gewinnt und sich über den Himmel spannt gleich einer Brücke. Der Bifröst spendete den Menschen einst Hoffnung, auch mir wird warm. Tief im Innern scheint der Eispanzer, der das Herz umklammert, aufzubrechen. Ich fühle Andrejs Nähe. Als stünde er neben mir, spielt eine aufkommende Brise mit meinem offenen Haar, ganz so wie er es tat.
      »Das ist wunderschön!«, raune ich in die Einsamkeit.
      »Wunderschön wie du!«, glaube ich, die Antwort zu hören.
      Erstaunt drehe ich mich um. Der Wind wird stärker und trägt einen nur allzu vertrauten Duft heran. Trotz des kalten Wetters wird mir heiß; ich kann meinen Mann riechen, als stünde er direkt hinter mir. Beinah spüre ich den geliebten Körper, die haltgebende Umarmung. Wie konnte ich je an deinem Versprechen zweifeln?
      »Wohin ich auch gehe«, sagtest du, »ich werde bei dir sein! Wenn du an mich denkst, wirst du meine Gegenwart fühlen – es endet nicht mit dem Tod. Unsere Seelen sind auf ewig verbunden – und sie finden stets zueinander.«
      Ich bin nicht gläubig, doch es ist Weihnachten. Passieren in dieser Zeit keine Wunder? Schon immer galten die Tage rund um die Wintersonnenwende als gabenspendend und besonders. Das Geschenk für mich ist Hoffnung: Andrej ist noch bei mir, tief eingepflanzt in mein Inneres wie ein zweites Herz. Nie würde er wollen, dass ich den nächsten Schritt gehe. Irgendwo am Ende des Regenbogens wartet er auf mich, das weiß ich plötzlich mit Gewissheit. Jener scheint so real wie eine Brücke, als müsste ich nur dorthin fahren, wo er beginnt, und könnte von dort aus zu meinem Geliebten gelangen. Den Leib mag sie nicht zu tragen vermögen, wohl aber meine Liebe.
      Ein letztes Mal taxiere ich die Tiefe, sie hat ihren Reiz verloren.
      Die Schönheit des Augenblicks und die Illusion von Andrejs Gegenwart schenken mir Zuversicht. Mit neuem Mut trete ich von der Steilküste zurück. Das Bild banne ich auf meine innere Leinwand: Leuchtende Farben, die das Meer berühren und sich darin spiegeln, eine Regenbogenbrücke direkt in den Himmel.
      Ich suche schon nach den passenden Worten, um davon zu erzählen, erkenne, wieso ich herkommen musste und was mich heimwärts begleitet. Den hier empfangenen Hoffnungsschimmer will ich weitergeben an ähnlich Leidende, möchte von diesem magischen Moment berichten. Das Leben hält so viel Fantastisches bereit, wenn man den Blick dafür öffnet. Bleibt das Wunder auch den Augen verborgen, vermag das Herz es doch zu gewahren. Solange es schlägt, besteht die Möglichkeit, seinem Ruf zu folgen!
      Selbst in der Einsamkeit des Leides verbirgt sich Zuversicht, gedeiht und treibt den Puls in die Höhe. Zusammen mit Andrej fand ich nie Zeit, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Nun, da ich allein bin, werde ich die mir verbleibende nutzen.
      Zielstrebig marschiere ich Richtung Parkplatz. Es ist Zeit, nach Hause zu fahren und meine Geschichte aufzuschreiben. Hoffnung glänzt nicht nur zur Weihnachtszeit, sie keimt in jedem Menschen und benötigt lediglich einen Anreiz zum Erblühen. Ich will versuchen, diesen zu schaffen.
      »Wir werden uns wiedersehen, Andrej, jedoch nicht heute!«, verspreche ich lautlos.

      © Sabine Reifenstahl

      Auszug aus der Benefiz-Anthologie „Geschichten unterm Tannenbaum“ mit 24 Geschichten verschiedener Autoren und Autorinnen. 284 Seiten, ISBN-13: 9783946762478