In der Weihnachtswerkstatt

      In der Weihnachtswerkstatt




      Im Spätherbst, wenn die Menschen die letzten warmen Sonnenstrahlen geniessen, beginnen in der Weihnachtswerkstatt die ersten Vorbereitungen: Pläne werden gemacht, Einkaufslisten geschrieben und Aufgaben verteilt. Schließlich sind sich die Profis aus der Weihnachtswerkstatt, die Weihnachtsengel, ihrer Verantwortung für ein gelungenes Fest vollkommen bewußt. In den Wochen vor Weihnachten soll es überall glitzern, duften und heimelig sein. So wollen es die Menschen, so stellen sie sich Weihnachten vor.
      Ich möchte so gerne einmal eine richtig schöne Weihnachtsgeschichte schreiben, daher habe ich mich zu Recherchezwecken mit drei dieser Weihnachtsengel getroffen und sie haben mich in ihrer Werkstatt empfangen. Davon erzähle ich euch jetzt:
      Der Eingang zur Weihnachtswerkstatt sieht ziemlich unspektakulär aus. Eigentlich habe ich leise Musik, glitzerndes Licht und den Duft nach frisch gebackenen Plätzchen erwartet und wäre fast an der braunen und unscheinbaren Holztüre vorbei gegangen, doch glücklicherweise haben mich die Engel gesehen und öffnen mir die Türe. „Komm herein“, sagt Berta Weihnachtsengel freundlich und macht eine einladende Handbewegung, „herzlich willkommen.“
      Berta erzählt dann auch gleich, warum die Tür zur Werkstatt gänzlich ungeschmückt ist: „Wir arbeiten lieber im Verborgenen, weißt du“, sagt sie und rückt ihre Brille zurecht, „sonst kämen die Menschen noch früher als ohnehin mit ihren Wünschen und Erwartungen auf uns zu. Wir könnten unseren Zeitplan niemals einhalten, wenn die Leute wüßten, wo wir arbeiten.“
      In den Räumen der Weihnachtswerkstatt herrscht geschäftiges Treiben. Berta zeigt mir das Lager: in Hochregalen sind unzählige Kerzen, Kugeln, Kartons mit Engelshaar und Glitzerstaub aufgeschichtet, in anderen Regalen lagern Säcke prall gefüllt mit verschiedenen Zapfen.
      „Komm mit“, fordert mich Berta auf, „ich stelle Dir meine fleißigen Kollegen vor.“ Eilig geht sie voraus und ich notiere mir in mein Notizbuch: „Weihnachtsengel können gar nicht fliegen. Aber sie haben eine flotte Schrittgeschwindigkeit.“
      Flotte Schrittgeschwindigkeit ist eigentlich ziemlich untertrieben. Berta rennt nahezu vor mir her und allmählich kommt mir der Gedanke, dass die sprichwörtliche weihnachtliche Besinnlichkeit in der Weihnachtswerkstatt ein selten gesehener Gast ist. „Unbedingt nachfragen!“, notiere ich in mein Buch, während ich Mühe habe, mit der schnellen Berta Schritt zu halten.
      Wir sind in der Zwischenzeit in einem anderen Raum angekommen, dort brennen Kerzen, es duftet (endlich) nach Tanne und Gewürzen und schliesslich bleibt Berta vor zwei anderen Engeln stehen.
      „Das ist Olga“, sagt sie und zeigt mit ihren Fingern auf ihre Engelskollegin, „und das da ist Bob. Bob ist Weihnachtsengellehrling. Er ist noch nicht so lange bei uns und muss erst noch lernen, wie der Hase läuft. Aber er macht sich gut. Gell Olga?“
      Olga nickt. „Bob ist eine große Hilfe“, Olga gähnt während des Sprechens und gießt sich nebenbei heißen Kaffee in ihre Tasse. „Ohne Bob und ohne Kaffee würde hier alles zusammenbrechen.“ Sie gähnt erneut und wirft dann mit lockerem Schwung eine Handvoll Engelshaar auf ein Weihnachtsgesteck. Wie schön es nun glitzert! So stelle ich mir Weihnachten vor.
      „Wie bist du eigentlich zu den Weihnachtsengeln gekommen?“, frage ich Bob. Bis zum heutigen Tag war mir nicht klar, dass es auch männliche Weihnachtsengel gibt.
      Bob zuckt mit den Schultern und sucht nach einer vernünftigen Erklärung. „Ach, irgendwie war das purer Zufall. Eigentlich wollte ich als kleiner Junge Prinzessin werden, aber leider gibt es in diesem Beruf kaum Ausbildungsplätze. Dann bekam ich das Angebot bei den beiden Engeln Berta und Olga zu arbeiten und nun bin ich eben hier.“
      „Aha“, mache ich und fülle mein Buch mit weiteren Notizen, „und wie sind die beiden so?“ Bob grinst ein sehr schelmisches und spitzbübisches Grinsen. „Jetzt muss ich aufpassen was ich sage, Berta hat nämlich ein Buch in das sie alles einträgt. Ich möchte nicht zu viele negativen Punkte anhäufen. Hier in der Weihnachtswerkstatt ist es Berta, die für Struktur sorgt, sie hat immer den Überblick. Sie weiß genau, was noch zu tun ist und welche Aufbauten ich noch bauen muss. Berta hält den Laden zusammen und muntert alle müden Engel auf. Was soll ich sagen? Berta ist ein echter Engel.“ „Aha“, mache ich ein weiteres Mal und schreibe in mein Notizbuch, „und diese Olga? Sie macht einen etwas missmutigen Eindruck.“
      „Olga denkt einfach zu viel über Weihnachten nach“, lacht Bob, „aber frag sie doch einfach selbst.“ Also schnappe ich mein Notizbuch und gehe hinüber zu Olga. „Olga, wie bist du zu den Weihnachtsengeln gekommen?“, frage ich neugierig. Bevor mir Olga antwortet, nimmt sie einen großen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. „Vor vielen vielen Jahren habe ich bei der Berufswahl einen klitzekleinen Moment nicht aufgepasst und: Zack! Weihnachtsengel geworden. Dabei kann ich Weihnachten eigentlich gar nicht leiden.“
      „Oha!“, mache ich bei dieser Antwort. „Ein Weihnachtsengel, der Weihnachten nicht mag? Wieso machst du das denn dann?“ Ungläubig schüttle ich den Kopf. SO hatte ich mir die Weihnachtswerkstatt nicht vorgestellt. In meinen Gedanken waren dort stets blond gelockte, zarte Wesen, die mit feinem Lächeln in die Himmelstrompeten blasen und der Welt den Frieden bringen. Habe ich mich etwa getäuscht?
      „Willst du es wirklich wissen?“, fragt mich Olga und trinkt ihren Kaffee aus. Ich nicke und halte Stift und Notizbuch bereit, damit ich nicht auch nur ein Wort missverstehe oder gar vergesse aufzuschreiben.
      „Also, ich bin im Grunde beim Institut für Tulpenknickerei angestellt, dort verbringe ich den größten Teil meiner Arbeitszeit. Das Institut arbeitet jedoch in Kooperation mit der Weihnachtswerkstatt und so kommt es, dass ich einige Monate des Jahres hier bin. Ich bin quasi nur ein Teilzeitengel mit Tulpenhintergrund.“ Olga nimmt ein paar rote Kerzen aus dem Regal und steckt sie auf einen Adventskranz. „Ich selbst würde mir niemals dieses Glitzer-Kerzenschein-Duft-Zapfen-Gebimmbamsel ins Zimmer stellen. Ist einfach nicht mein Fall.“
      Olga zuckt mit den Schultern, sie scheint diese besondere Stimmung vor Weihnachten wirklich nicht zu verstehen.
      „Denk’ doch mal nach“, sagt sie, „Weihnachten in dieser Form ist doch ziemlich seltsam. Die Menschen wollen es besinnlich und behaglich und delegieren die Besinnlichkeit weiter. Wir, die Weihnachtsengel, wir sollen dafür sorgen, dass es den Menschen gut geht? Ich finde, das müssen die schon selber richten. Wer den Sinn von Weihnachten nicht begriffen hat, dem hilft auch kein Sternenglitzer und Engelhaar. Da können wir mit Zapfen und Tannenzweigen nur so um uns werfen, die Räume mit Zimt und Anis beduften und überall ein Lichtlein entzünden; es ist und bleibt immer nur ein schöner Schein.“
      Die schnelle Berta rauscht an uns vorbei. „Quatsch nicht so viel Olga. Vor allem nicht so schwermütiges Zeug. Gerade ist eine Bestellung hereingekommen. Rot! Wir brauchen viel mehr Rot! Und wo steckt eigentlich dieser Bob? Der muss mir noch was zusammenbauen.“
      „Siehst du“, Olga schaut mich an, „das meinte ich vorhin: mehr, mehr, immer muss es mehr sein. Rotgold, Rotglitzer und dann noch diese Musik. Hast du schon mal das Radio in der Vorweihnachtszeit angemacht? Der eine verschenkt jedes Jahr sein Herz und wird doch nicht erhört. Der andere fährt jedes Jahr schon im Spätherbst los und keiner weiß, ob er jemals rechtzeitig zuhause angekommen ist.“ Olga rollt genervt mit den Augen.
      Ich kann gar nicht so schnell mitschreiben, wie Olga spricht. Mein Notizbuch ist nun prall mit allerlei weihnachtlichen Gedanken gefüllt und ich nehme mir vor, genau darüber nachzudenken.
      Ist es vielleicht wirklich wahr, dass in all der geschäftigen Unruhe der weihnachtliche Gedanke völlig verloren gegangen ist?
      Sind die Menschen zu Weihnachtszeit gar nicht so besinnlich, wie sie es sich vorstellen und wünschen?
      Ich nehme mir vor, in den kommenden Wochen die Menschen ganz genau zu beobachten und erst wenn ich meine Recherchen abgeschlossen habe, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben.
      Sonst kommt womöglich noch völliger Quatsch dabei heraus und das möchte ich meinen Lesern nicht zumuten.

      © Anja Müller 11/2019