Eine Weihnachtsgeschichte

      Eine Weihnachtsgeschichte



      Es hatte vierzehn Tage lang gefroren wie in Sibirien.
      Auf dem höchsten Berg im Lande saß der alte Wintergreis mit seinem bläulichen Gewande und seinem lang hinstarrenden Schneebart, und ihm war so recht behaglich zumute, wie einem Menschengreise, wenn er hinter dem Ofen sitzt und das Essen ihm geschmeckt hat und alles gutgeht.
      Zuweilen rieb der alte Winter sich vor Vergnügen die Hände – dann stäubte der feine, schimmernde Schnee wie Zuckerpulver über die Erde; bald lachte er wieder still vor sich hin und es gab Sonnenschein mit klingendem Frost. Der schneidende Hauch seines Mundes ging von ihm aus, und wo er über die Seen strich, zerspaltete das Eis mit langhindonnerndem Getöse, und wo er durch die Wälder wehte, zerkrachten uralte Bäume von oben bis unten.
      „Habe Erbarmen, alter Wintergreis!“ flehte ich, „und laß ab, denn es ist Weihnachten und ich muß pelzlos nach Hause reisen.“ Der Alte fühlte ein menschliches Rühren, lehnte sich mit dem Rücken gegen die uralte Eiche, die auf dem hohen Berge steht, schloß die Augen und drusselte ein wenig.
      So gelangte ich denn ohne Gefährde in meine Vaterstadt zu meiner Mutter. – Wohl dem, der noch eine sichere Stätte hat in der weiten Welt, wo er sich geliebt weiß, wo die treuen Augen der Mutter auf ihn sehen, die schon voll Liebe auf ihm ruhten, als er noch klein und hilflos auf ihrem Schoße spielte. – Da bin ich wieder in den kleinen, wohlbekannten Zimmern, und die freundlichen Augen werden nicht müde, mich zu betrachten; ich muß erzählen, wie es mir ergangen ist, und auch das Kleinste ist dabei nicht zu unwichtig. Dann stürmt mein Bruder Hermann ins Zimmer, der Primaner und Naturforscher, und kaum hat er mich begrüßt, so erzählt er schon: „Du, Eduard, die Eislöcher auf dem großen See wimmeln von nordischen Enten, die hier überwintern, und am Schloßgartenbach habe ich wieder Eisvögel beobachtet.“ – Polly, der braungefleckte Wachtelhund, ein außerordentlich gebildetes Tier und Zögling meines Bruders, springt in ausgelassener Wiedererkennungsfreude an mir empor und muß sofort seine neuerlernten Künste zeigen.
      Dann kommt auch Murr, der weiße, gelbgestreifte Kater, reserviert wie Katzen sind, leise gegangen und reibt sich schnurrend an meinem Knie, auch er hatte mich nicht vergessen. Er hat Menschenverstand, wie meine Mutter sagt, und wenn er zuweilen des Abends würdevoll mit dem um die Vorderfüße geringelten Schwanz auf der Sofalehne sitzt und einen der Sprechenden nach dem andern aufmerksam anblickt, so ruft meine Mutter oft plötzlich, wenn von Geheimnissen die Rede ist: „Sprecht doch leise, der Kater versteht ja alles!“ – Und von Geheimnissen wimmelt das Haus jetzt förmlich; da erscheint Paul, der Jüngste, der Obertertianer, der noch gar nicht weiß, daß ich gekommen bin, plötzlich in der Tür, etwas leicht in Papier Geschlagenes in der Hand tragend. Aber kaum hat er mich erblickt, als er, statt mich zu begrüßen, voll Entsetzen wieder hinausspringt und erst nach einiger Zeit ohne das Paket mit vergnügtem Lächeln wieder zurückkehrt. „Feine Schlittschuhbahn“ , lautet sein Bericht, „wir sind gestern schon nach Nußwerder gelaufen, der große See ist ganz zu.“

      Heinrich Seidel