Astronaut



      Auf der High School war Michael einer der Rebellen, der sich gar nicht anpassen wollte. Seine Vorbilder Rockmusiker, keinesfalls Professoren oder gar Nobelpreisträger. All das änderte sich durch seine erste Freundin Rachel.
      Sie schaffte es, den Heranwachsenden für Physik und Astronomie zu interessieren. Wenig später legte er einen Leistungskurs in diesem Gebiet ab, trainierte seinen Körper intensiv und bewarb sich für ein Programm der NASA. Sein Querdenken aus den alten Tagen gemischt mit reiner Logik schien den Verantwortlichen zu gefallen. Sie bemerkten schnell, dass Michael ein außergewöhnlicher Mensch ist. Er wurde herangezogen, einen Test für die Eignung eines Aufenthalts der internationalen Raumstation zu absolvieren.

      Mehr als geeignet sowohl von Geist und Körper wurde er eingestuft. Der Stolz seiner texanischen Eltern aus Dallas kannte keine Grenzen. Michael´ s Mutter hielt die gesamte Nachbarschaft auf dem Laufenden. Rachel dagegen wirkte in diesen Wochen etwas ängstlich, fast verstört. Die große Liebe ihres Lebens ein ganzes Jahr im Weltall, wer sollte sich dann noch um ihn sorgen?
      Michael hatte noch genau drei Monate Zeit, um sich weiteren Tests zu unterziehen. So eine Schwerelosigkeit wie in den Simulatoren der NASA wünscht man sich oft im echten Leben herbei. Nicht nur auf Grund von Ansehen in seiner Umwelt sagte Michael der Behörde zu. Sein langes, blondes Haar wurde ihm gekappt. Nachdem er mehrmals von Psychologen befragt wurde, war klar: Der Junge war bereit für Alles.
      Tatsächlich flog Michael mit einer Besatzung von insgesamt drei Leuten auf die ISS. Sein Faible für Technik kam ihm ebenso zu Gute wie seine neutrale, menschliche Art. Die ersten Tage nach dem Andocken an der Station kamen ihm vor wie im Traum. Die Faszination, die Erde aus dem All zu betrachten und nur durch Funk mit ihr verbunden zu sein, war schlichtweg unglaublich.
      Es vergingen einige Wochen intensiver Reparaturarbeiten an der Sonde. Dennoch konnten alle Raumfahrer Nachrichten aus ihrer Welt, dem blauen Planeten, empfangen.
      Michael begann, mehr nachzudenken denn je. Ihm wurde bewusst, dass er monatelang nicht im grünen Wald mit seinem Hund spazieren gehen kann. Kein Mädchen im Arm halten, weder Ausflüge an den See noch zwischenmenschlicher Kontakt außer zu den beiden Kollegen.
      Jedoch fühlte er sich dort oben freier als jemals zuvor. Er verfolgte jeden Tag das Geschehen auf dem Planeten. Die Umrisse einzelner Länder waren zu erkennen. Bilder des Krieges konnte er wie ein Puzzle mit dem Zeigefinger einfügen, während er durch die Fenster seine Fingerkuppe auf dem Erdball in weiter Ferne spielen ließ.
      Als die Oscars in seinem Land verliehen wurden, betrachtete er voller Sehnsucht die Umrisse Nordamerikas. Erdachte an Freundin Rachel, die jetzt sicherlich vor dem TV saß. Kurz darauf spielte sein Weltraumprogramm Neuigkeiten aus Fernost ein. Krieg, Zerstörung und Gewalt ließen seine Finger wie in einem Bilderbuch an der Luke der Station dorthin wandern.
      Er bemerkte immer mehr, wie klein Menschen sind, denn aus dem Weltall waren sie nicht auszumachen. Vielmehr begann er, ein Rollenspiel für sich zu entwickeln. Er entdeckte, dass nicht nur in Indien Menschen in Kasten hineingeboren werden. Arm und reich, glücklich oder unglücklich, alleine oder gemeinsam, ihm offenbarte sich der ganze Planet als Spiel der Mächtigen. Manchmal kam ihm der Gedanke im Traum, die Kugel mit seinen großen Händen zurechtzurücken. Michael war sich aber immer bewusst darüber, dass nur Gott das könne.
      Nach weiteren Ausbesserungsarbeiten beschäftigte er sich nur noch mit dem Nachdenken über die dort unten. Bei Mahlzeiten schwieg er meistens. Es gab ohnehin jede Woche denselben Speiseplan. Das war aber nicht mehr wichtig für ihn. Der Gedanke, alles von oben zu betrachten, schenkte ihm ein Gefühl der Macht und Unabhängigkeit. Dennoch war er weder mächtig und noch dazu gefangen in der ISS.
      Michael ist ein moderner Ritter, ein Eroberer möglicher neuer Welten. Sein Panzer ist eine Raumstation. Doch er kann nichts Grundlegendes steuern. Jeder Mensch spielt seine eigene Rolle im Leben. Im Beruf, für die Familie, in der Liebe. Mehr sollte ein Wesen, das von da oben nicht einmal gesehen werden kann nicht verlangen.
      Der Astronaut war der Welt so fern wie nie zuvor, trotzdem aber näher an den Gefühlen und Emotionen der Menschheit, als er es sich je erträumt hätte.
      Die Macht des Universums ist unergründlich. Eventuell auch nur eine Rollenverteilung

      ©Roman Reischl 2010