Das Theaterstück

      Das Theaterstück



      In der Schule wird an diesem Tag das Theaterstück vom Prinzen und dem Bettelknaben aufgeführt. Es sind wenige Tage vor Heiligabend. Der Raum ist voll und die letzten Angehörigen suchen sich einen Platz. Es sind Familienmitglieder und Verwandte, die sich einen der letzten Stühle ergattern, bevor es losgeht. Thomas, der Onkel von Luis, sitzt neben seiner Schwester und Lukas, der große Bruder von Maik, sitzt ebenfalls auf einen der Stühle der vorderen Reihe. Sie haben Blickkontakt und längst haben sie sich gesehen. Immer wieder tauschen sie sich neugierige Blicke aus.
      „War das gerade ein Augenzwinkern?“, glaubt Lukas zu sehen, als er wiederholt links neben sich zu Thomas schaut. Er sitzt nur ein paar Stühle weiter als er. Sie können beide ihren Blick nicht voneinander lassen. Thomas hat es ihm längst angetan und andersrum scheint es genauso zu sein. Dann verstummt die Musik und es geht los. Der Vorhang wird geöffnet und man sieht den kleinen Luis, wie er in seinem Kostüm auf einer nachgebauten Straße sitzt, dann erklingt kurzzeitig neue Musik. Die Kinder geben sich Mühe, auch Maik, als Prinz zeigt sein schauspielerisches Talent. Am Schluss applaudieren die Leute und pfeifen und loben die Kinder von ihren Plätzen aus.
      Die ganze Aufführung über wechseln Thomas und Lukas interessante Blicke aus.

      „Wer ist dieser Typ, der mich da ständig anschaut?“, hat sich auch Thomas schon mehrmals gefragt. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte das Gespräch mit dem Unbekannten gesucht. Er kam ihm so bekannt vor. Bestimmt hatte er ihn schon einmal gesehen. Doch ihm will nicht einfallen, wo er ihn gesehen haben soll. Und Lukas geht es genauso. Nach der Aufführung riecht es im Saal nach frischem Kaffee und leckerem Lebkuchenduft.
      Die Lehrerin ruft auf: „Nach dem wunderbaren Auftritt der Kinder gibt es nun noch ein gemeinsames Kaffeetrinken, bleiben Sie gern noch da.“
      Wieder wird geklatscht. Natürlich bleibt Thomas noch da, er möchte nicht verpassen, das Gespräch mit Lukas zu suchen. Doch leider ist dieser und auch sein kleiner Bruder Maik schon gegangen, wie er feststellen muss.
      Traurig überlegt er, wie er den Unbekannten ausfindig machen könnte.
      Übers Internet? Ganz ohne Namen wird das schwer. Über seine Familie wäre ihm sicher nicht recht. Auf ihrem Weg kommen Lukas und sein Bruder an der Allee vorbei, dort wo die vermögenden Leute wohnen. Hier wohnt auch Thomas. Das weiß Lukas jedoch nicht. In Gedanken ist er immer noch bei dem Theaterstück ‚Der Prinz und der Bettelknabe´.
      Überall ist es weihnachtlich geschmückt. Ganz anders als in seinem Viertel, wo jeder Block an Block wohnt und man nur vereinzelt Schwippbögen und Sterne im Fenster leuchten sieht.
      Dafür schämt sich Lukas nicht, immerhin ist er es nicht anders gewohnt. Er ist hier aufgewachsen und möchte auch gar nicht tauschen wollen. Auch wenn seine Familie nicht viel Geld hat, Lukas ist dennoch zufrieden. Er geht seit einigen Jahren selbst arbeiten und kann sich manches, wenn auch nicht alles, leisten.

      „Ich möchte gern noch einen Spaziergang machen, einfach ein paar Schritte gehen. Möchtest du mitkommen?“, fragt Lukas jetzt seinen Bruder.
      „Nein, mir ist kalt. Ich geh inzwischen nach Hause.“
      „Okay, dann sehen wir uns nachher.“

      Dann geht Lukas allein weiter. Er denkt an Thomas, der ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Ständig sieht er sein Gesicht vor Augen. Plötzlich erinnert er sich wieder.
      Da war dieser Geburtstag eines Freundes Anfang des Jahres. An diesem Tag ist er Thomas das erste Mal begegnet. Sie haben sich sofort verstanden und haben sogar ein interessantes Gespräch geführt. Leider war Lukas zu diesem Zeitpunkt noch in einer Beziehung mit seinem Partner. Sonst hätte er Thomas wohl früher wieder gesehen. Lukas hatte keine Augen für andere Männer als er mit Ben zusammen war. Die Beziehung hielt nicht mehr lange. Vielleicht ein Viertel Jahr noch. Über die Trennung dachte er ungern nach. Ben war sehr eifersüchtig. Plötzlich wird er versehentlich angerempelt.

      „Sorry, war keine Absicht“, sagt der junge Mann, der daraufhin stehen bleibt. Dann sieht Lukas erst, wer überraschenderweise vor ihm steht. Es ist Thomas, der jetzt auch Lukas erkennt, dabei sein liebevollstes Lächeln aufsetzt.
      „Hast du Lust auf einen Kaffee?“, fragt Thomas ganz spontan.
      „Als kleine Entschuldigung sozusagen.“ Lukas muss lächeln.
      „Natürlich. Sehr gern. Hier um die Ecke ist ein kleines aber feines Cafe.“
      So gehen sie und unterhalten sich auf dem Weg dorthin, wie damals, ohne Beklommenheit und verstehen sich sofort. Sie treffen sich dann jeden Tag nach der Arbeit. An einem dieser kalten, winterlichen Tage hat Thomas die Idee Eislaufen zu gehen. Denn der See im Stadtpark ist zugefroren und trägt eine dicke Eisschicht.

      „Ich kann nicht Eislaufen“, gesteht ihm Lukas.
      „Dann bringe ich es dir bei“, bietet ihm Thomas an.
      „Gut, versuchen wir es. Mehr als dass ich mir etwas breche kann nicht passieren.“

      Thomas muss lachen und später stehen sie gemeinsam auf dem Eis. Die ersten Meter ist Lukas sehr wacklig auf den Beinen. Wie ein kleines Kind, das gerade das Laufen lernt. Thomas hält ihn fest. Dann kommt er allein zurecht. Er ist die ganze Zeit direkt hinter Lukas, um ihn zu halten, sollte er ins Wanken geraten.

      „Das klappt doch schon ganz gut“ stellt dieser fest.
      Und dann kommt Lukas unerwartet ins Rutschen und fällt Thomas direkt in die Arme.
      Sie schauen sich an, tief in die Augen und verfangen sich in ihren Blicken.
      Thomas ist derjenige, der Lukas den ersten Kuss gibt. Erst zögert Lukas, doch dann lässt er sich auf einen weiteren leidenschaftlicheren Kuss ein, den keiner von beiden so schnell vergessen wird. Sie stehen auf dem Eis. Alles um sie herum ist vergessen. Dabei küssen sie sich intensiv und lange. Es gibt keine anderen Leute um sie herum, niemanden, nur sie – Thomas und Lukas. Als sie später die Eislaufschuhe ausgezogen haben, sitzen sie nebeneinander auf der Bank.

      „Es ist aber schnell dunkel geworden“, stellt Thomas überrascht fest. Es ist die typische Winterzeit, wo die Tage kürzer sind.

      „Lass uns nach Hause gehen“, bittet ihn Lukas. Doch vorher beobachten sie beide zur gleichen Zeit wie eine Sternschnuppe über den Himmel vorüberfliegt und gleich wieder verschwindet. Beide haben den gleichen romantischen Gedanken, den man aber bekanntlich nicht verraten soll, weil sonst dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Anschließend steht Thomas auf und Lukas tut ihm gleich. Hand in Hand gehen sie nach Hause und kommen an unterschiedlichen Geschäften vorbei, die dekorativ geschmückt, die Weihnachtszeit ankündigen. Das Fest der Liebe, der Familie und der kleinen und großen Wunder.

      © Sebastian Görlitzer