Weihnachten auf hoher See

      Weihnachten auf hoher See



      Kapitän Johann Magnus Johansson stand auf der Brücke seines Containerschiffes.
      Die Klimaanlage sorgte für angenehme 22 Grad, während draußen über 35 Grad herrschten.
      Sein Blick fiel auf den Kalender.
      Johann Magnus seufzte traurig.
      Der Kalender zeigte den 20. Dezember.
      Wieder ein Weihnachten nicht zu Hause.
      Wieder würden er und seine Familie getrennt Weihnachten feiern.
      Sie waren auf dem Weg nach Australien. Seine Familie befand sich auf der anderen Hälfte der Welt.
      Die See war ruhig, die Maschinen liefen mit zwei Drittel voraus. Sie fuhren mit etwa 18 Knoten. Planmäßige Ankunft im Hafen von Melbourne war der 27. Dezember.
      Mit Johann Magnus befanden sich noch weitere 14 Besatzungsmitglieder auf dem Schiff. Sie kamen aus aller Herren Länder. Dazu gehörten Argentinier, Philippinos, Ukrainer, Rumänen und ein Italiener. Daher wurde auf dem Schiff ausschließlich Englisch gesprochen, damit sich alle miteinander verständigen konnten.
      Im Sommer, da gab es ab und an Passagiere die man mitnahm, doch jetzt im Winter fuhr keiner mit. Weihnachten verbrachten die meisten Leute lieber zu Hause.
      Viel zu tun gab es daher auf See nicht, das Schiff fuhr weitgehend automatisch und musste nur überwacht werden. Da keine Passagiere mitfuhren, musste man sich auch nicht um sie kümmern.
      Also hatte man viel Zeit seinen Gedanken nachzuhängen. Johann Magnus übergab die Brücke an seinen ersten Offizier und ging hinunter in seine Räume. Dort kramte er einen länglichen Karton und mehrere kleine heraus. Nach und nach brachte er sie in die Messe und begann sie auszupacken. Es kam ein großer künstlicher Weihnachtsbaum zum Vorschein und der dazugehörige Schmuck, sowie die Lichterketten. Der Kapitän begann den Baum aufzubauen und zu schmücken. Dabei dachte er an seine Kinder und seine Frau.
      Ob sie wohl gerade dasselbe tun würden?
      Ob sie auch an ihn denken, so wie er an sie?
      Johann Magnus seufzte. Das tat er oft an solchen Tagen.
      Die wochenlangen Trennungen von seiner Familie behagten ihm gar nicht mehr. Das war schon so, seit sein Sohn auf die Welt kam.
      Vor 13 Jahren.
      Und vor elf Jahren kam dann noch eine Tochter dazu.
      Seine Familie sah er regelmäßig, allerdings nicht täglich, so wie die meisten anderen, sondern nur einmal in zwei Monaten. Dann war er ungefähr drei bis vier Tage zu Hause, bevor er erneut in See stechen musste. Natürlich war er immer in Kontakt mit seiner Familie. Über Seefunk konnte er sie jederzeit erreichen.
      Aber das war natürlich kein Ersatz.
      Manchmal hat er überlegt, einfach alles hinzuwerfen, doch wo sollte er sonst über 7000 € verdienen? Außerdem war er Seemann und das in der fünften Generation. Johann Magnus hätte sich nicht vorstellen können, nicht mehr zur See zu fahren.
      Trotz allem.
      „Wen Poseidon einmal in der Hand hat, den lässt er nie wieder los“, pflegte sein Vater zu sagen und hatte damit wohl recht.
      Während Kapitän Johansson seine Gedanken schweifen ließ, nahm der Weihnachtsbaum Gestalt an.
      Da kamen Marat Boholyubov, Crisipo Madera Baez und Aladino Udinese in die Messe, um einen Kaffee zu trinken.
      „Ist es schon wieder so weit?“, fragte der ukrainische Matrose Boholyubov gelangweilt, der in einer muslimischen Familie in Nikopol aufwuchs und mit Weihnachten gar nichts anfangen konnte. Allerdings interessierten ihn die muslimischen Feiertage genauso wenig. „Was heißt denn hier, schon wieder? Endlich ist es wieder soweit“, meinte der italienische Schiffskoch Aladino Udinese leicht pikiert. Für den Neapolitaner war Weihnachten etwas sehr Wichtiges.
      Nur der leitende Ingenieur Crisipo Madera Baez aus Buenos Aires kam auf den Gedanken, den Kapitän zu fragen: „Kann ich dir helfen?“ „Wenn du gerade Lust hast, gern“, antwortete Johann Magnus. Die beiden anderen sahen sich an und begannen mitzuhelfen. So stand alsbald ein wunderbar geschmückter großer Weihnachtsbaum in der Messe. Dann tranken sie alle gemeinsam noch eine Tasse Kaffee und unterhielten sich ein wenig über ihre Familien daheim. Sie alle vermissten ihre Familien, ganz besonders bei solchen Anlässen. Da machte auch Marat Boholyubov keine Ausnahme.
      Nachdem sie ihre Tassen geleert hatten, nahmen sie wieder ihren Dienst auf. Matrose Boholyubov begab sich auf seine tägliche Runde, die Ladungssicherungen zu kontrollieren. Ingenieur Baez machte sich auf den Weg in den Maschinenraum, Schiffskoch Udinese verschwand wieder in der Kombüse, um das Essen für die Mannschaft vorzubereiten, und der Kapitän ging wieder auf die Brücke.
      Die nächsten Tage plätscherten ereignislos mit der üblichen Routine dahin.
      Dann war er da, der 24. Dezember.
      Johann Magnus schaltete den Wecker aus, sah auf den Kalender und seufzte.
      Dann stand er auf, um seine täglichen Pflichten zu verrichten.
      Dabei blickte er immer wieder auf die Uhr. Er konnte es kaum erwarten bis es 13:00 Uhr war. Denn dann wäre es zu Hause 19:00 Uhr und Zeit für die Bescherung. Das war die Zeit wo er den Funkkontakt mit seinen Lieben zu Hause herstellte.
      Danach würde er, wie jedes Mal, sich in seine Räume zurückziehen und die alte Schallplatte, die er von seinen Eltern geerbt hatte, abspielen. Sie gehörte seit seiner Kindheit zu jedem Heiligen Abend dazu. Die Platte hieß „Weihnachten auf hoher See“ und war von Freddy Quinn.
      Doch es kam anders.
      Gegen 11:30 Uhr meldete der philippinische Funker Jayke Ramos, daß sich ein Hubschrauber angekündigt habe.
      Dieser wolle gegen 12:00 Uhr auf ihrem Schiff landen.
      Auf die Nachfrage, was das denn für ein Hubschrauber sei, konnte der Funker keine Antwort geben, es sei nur wichtig, habe man ihm gesagt. Es war jedoch ein bestätigter Anruf der Reederei.
      Kapitän Johansson zuckte mit den Schultern und fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
      Pünktlich wie angekündigt tauchte ein Augusta Westland AW139 auf und nahm Kurs auf die Landeplattform des Containerschiffes. Der große Helikopter in SAR-Farben, landete sanft auf der Plattform. Der Kapitän und sein erster Offizier waren bereits an der Plattform eingetroffen, um den Helikopter zu begrüßen. Die Turbinen liefen aus und die Rotoren wurden langsamer. Dann öffnete sich die Seitentür und eine Frau trat heraus.
      Dem Kapitän entglitten sämtliche Gesichtszüge und seine Kinnlade knallte herunter, denn wer da diesem Helikopter ausstieg, war niemand anderes als seine Frau. Johann Magnus lief auf sie zu, nahm sie in den Arm, küsste sie und fragte dann völlig verdattert: „Was tust du denn hier?“ „Na was wohl? Wir machen einen weihnachtlichen Familienbesuch“, antwortete sie schelmisch grinsend. Währenddessen stiegen noch andere Frauen aus und dann folgten die Kinder, auch die von Johann Magnus.
      Das war ein großes Hallo.
      Die ganze Besatzung kam herbeigerannt und begrüßte freudig die Ankömmlinge, die aus ihren schmerzlich vermissten Angehörigen bestanden. Auch der Weihnachtsmeckerer Marat Boholyubov hüpfte freudestrahlend um seine Frau und seine kleine Tochter herum.
      Eine Stunde später saßen alle zusammen in der Messe. Der Helikopter war inzwischen zurückgekehrt und nun übernahm Frau Johansson bei Kaffee und Kuchen die Aufklärung.
      „Es fing alles damit an, daß die Kinder anfingen zu quengeln, sie wollten mal wieder Weihnachten mit ihrem Vater verbringen, beziehungsweise mit der ganzen Familie. Die Idee war ja nicht schlecht, also versuchte ich herauszubekommen wie wir wohl auf die andere Seite der Welt gelangen könnten. Ich sprach mit der Reederei und wurde verbunden mit einem der Vorstandsmitglieder. Das war ein Grieche, der hieß Christos Evangelidis. Und wenn ich mir das recht überlege, kann der Name kein Zufall gewesen sein. Denn er fragte mich, ob ich wohl der Meinung sei, daß die anderen Frauen der Mannschaftsangehörigen vielleicht auch ihre Männer sehen wollen würden. Ich sagte ihm, ich nähme das an. Daraufhin bat er mich, mit den anderen Frauen Kontakt aufzunehmen und ihm dann zu erzählen, wie viele Personen denn wohl auf die Reise gehen würden. Nun, das habe ich dann gemacht. Ich telefonierte den ganzen Tag durch die ganze Welt und rief dann wieder Herrn Evangelidis an. Der sagte mir dann, er kümmere sich um den Rest und melde sich wieder. So war es dann auch. Einen Tag später rief er zurück und sagte, daß er uns alle zusammen auf das Schiff schicken wird. Doch vorher müssten wir uns in Perth einfinden. Jeder bekam ein Linienflugticket aus seiner Heimat nach Perth. Sämtliche Kosten wurden durch die Reederei bezahlt. Bis alle da waren, wohnten wir zwei Tage lang in einem Hotel. Dann kam der gecharterte Helikopter und brachte uns alle zusammen hierhin. Wir können eine ganze Woche bleiben. Wenn ihr in Melbourne wieder in See stecht, fliegen wir alle wieder nach Hause.“ Die Männer staunten.
      So etwas ist noch keinem von ihnen passiert.
      Es war das schönste Weihnachtsfest, das die Besatzung des Containerschiffes je erlebt hat.
      Und dieses Mal lauschten alle zusammen der alten Platte des Kapitäns und feierten ein besinnliches und fröhliches Weihnachten auf hoher See.

      ©Falko Mann 11/2019