Das Fenster zur Welt

      Das Fenster zur Welt



      Der Weihnachtsmann lag in seinem Bett und träumte von Kindern, die mit leuchtenden Augen Geschenke auspackten, als er plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde. „Ho, ho, ho! Ho, ho, ho! Ho, ho …“, erklang es aus dem Wecker, ehe der Weihnachtsmann ihn abstellte. Er freute sich noch immer jeden Morgen über die Uhr, die ihm seine Wichtel im letzten Jahr mit den Worten „Dieses Jahr soll auch der Geschenkebringer nicht leer ausgehen“ überreicht hatten. Er setzte sich auf und spürte etwas wehmütig der Bettdeckenwärme nach. Wie gerne hätte er noch eine weitere Runde geschlafen … Aber die Kinder der Welt zählten auf ihn, und das motivierte.
      Er setzte seine Brille auf – mit dem Alter hatte die Sehstärke ganz schön nachgelassen –, ging ins Badezimmer und machte sich fertig. Während er unter dem Jahr wie ein liebenswürdiger Opa aussah, so trug er im Dezember stets das rote Outfit, mit dem ihn alle Welt kannte. Jedes Jahr war er froh, wenn es ihm nach dem langen Urlaub noch passte, denn er hatte eine Schwäche für leckeres Essen. Der Weihnachtsmann liebte seine Arbeitskleidung, nur auf die unbequemen schwarzen Stiefel hätte er gerne verzichtet – doch andere Schuhe kamen nicht infrage. Tradition und Beständigkeit waren ihm wichtig.
      Das Frühstück nahm er in der Adventszeit immer am Schreibtisch ein, jeden Morgen stand dort schon ein Sack mit neuen Briefen bereit. Zwar halfen ihm seine Wichtel beim Abarbeiten der Wunschzettel, doch das hieß nicht, dass er sich ausruhen konnte. Er lehnte sich in dem mit Fellen gepolsterten Stuhl zurück und nippte am Tee. Sein Blick wanderte durch den weihnachtlichen Raum – neben dem mit Laden verschlossenen Fenster ein kleiner Tannenbaum, geschmückt mit goldenem Lametta und roten Kugeln, darunter mehrere mit buntem Geschenkpapier umwickelte Päckchen und überall bunte Lichter. Glücklich sah er auf die große Wand mit den vielen gemalten Bildern, die die Kinder ihren Briefen beigelegt hatten.
      Er schmierte sich ein Brötchen mit Pflaumen-Zimt-Marmelade, biss einmal ab und zündete sich feierlich seine Pfeife an. Danach zog er sich noch schnell Papier und die alte weiße Tintenfeder heran, und es konnte losg… In diesem Moment flog die Tür auf.
      „Ffef! Ffef!“ Zusammen mit einigen Schneeflocken stürmte ein Rentier herein, völlig außer Atem.
      „Meine Güte, Rudolf, was ist denn passiert?“
      Rudolfs Nase glühte durch die Aufregung rot. „Iff haff fifftige Pofft!“, nuschelte er an einem Briefumschlag zwischen seinen Lippen vorbei.
      „Wie bitte?“ Ein Schmunzeln unterdrückend ging der Weihnachtsmann auf Rudolf zu und nahm ihm den Brief aus dem Maul.
      „Danke, Chef. Ich sagte: Ich hab wichtige Post. Die Wichtel haben gerade diesen Brief geöffnet und … nun, dieses Kind wünscht sich etwas, das sie in der Wichtelwerkstatt nicht herstellen können.“
      Vorsichtig zog der Weihnachtsmann den Brief aus dem Umschlag, faltete ihn auseinander und begann zu lesen.

      „Hallo lieber Weihnachtsmann,
      mein Name ist Sara. Ich schreibe dir jedes Jahr und bisher hast du mir jedes Geschenk, das ich mir gewünscht habe, unter den Baum gelegt. Danke!

      Doch dieses Jahr wünsche ich mir nichts, was du einpacken kannst. Meine Mama und mein Papa streiten nur noch … schon länger. Erst dachte ich, es liegt an mir, und ich hab mich bemüht, ganz besonders brav zu sein. Aber es wird nicht besser. Ich weiß nicht einmal, warum sie angefangen haben, sich zu streiten, aber ich habe Angst, dass sie sich nicht mehr liebhaben und sich trennen, und das wäre schrecklich.

      Ich verspreche dir, dass ich dir nie wieder einen Wunschzettel schicke, wenn du nur machst, dass sich meine Eltern wieder vertragen. Ich vermisse es so sehr, sie lachen zu sehen, und bin sehr traurig.

      Deine Sara Korn“

      Betroffen sah der Weihnachtsmann Rudolf an und fuhr sich gedankenverloren durch den bauschigen weißen Bart. „Solche Briefe bekommen wir seit Jahren immer öfter … Öffnest du mir bitte die Fensterläden vom Fenster zur Welt?“
      Das Rentier sah den Weihnachtsmann mit großen Kulleraugen an, dann lächelte es. Der Blick durch das Fenster zur Welt stand eigentlich nur dem Weihnachtsmann zu, aber da Rudolf sein Lieblingsrentier war, durfte der hin und wieder die Laden öffnen und damit selbst einen kleinen Blick erhaschen. Sofort trabte er zum Fenster neben dem Weihnachtsbaum, öffnete mit den Zähnen das Fenster und stupste mit der roten Nase die Läden auf. Der Weihnachtsmann trat neben ihn und sah hinaus. Der starke Nebel lichtete sich und offenbarte den Blick in die Wohnung der Korns. An einem Tisch saßen ein Mann und eine Frau, sie waren in ein Gespräch vertieft.
      „Zum letzten Mal: Sara hat hier all ihre Freunde. Wenn wir wegziehen, dazu noch während des Schuljahrs, hat das auch für sie Auswirkungen: Sie müsste ihre beste Freundin, den Turnverein, ihre Klassenkameraden zurücklassen!“, sagte die Frau leise, aber mit Nachdruck.
      „Ja, vielleicht. Aber ich würde in dieser neuen Firma so viel mehr verdienen – ist dir das denn völlig egal? Wir könnten uns ein Haus kaufen, müssten nicht mehr zur Miete wohnen. Sara könnte ein größeres Zimmer bekommen, und sie ist doch ein so aufgewecktes Mädchen – sie findet bestimmt schnell neue Freunde. Wir müssen diese Entscheidung nun endlich treffen! Sie haben heute angerufen: Sie erwarten meine Zusage bis 23. Dezember!“
      „Gut. Dann treffe ich nun eben eine Entscheidung! Ich will das Beste für Sara, und wenn du diesen neuen Job annimmst, musst du alleine gehen. Ich bleibe mit Sara hier!“ Dann ging die Frau weg und schlug die Tür hinter sich zu.
      Gedankenverloren verschloss der Weihnachtsmann das Fenster zur Welt.
      „Wofür sich Sara wohl entscheiden würde …“, murmelte Rudolf
      „Rudolf! Du sollst doch nicht mit rausgucken!“
      Das Rentier grinste verlegen. „Uuups, muss ich vergessen haben.“
      „Tja … Und was meinst du, was wir tun sollen?“, fragte der Weihnachtsmann.
      „Na, das ist doch ganz einfach. Menschen denken immer so kompliziert. Wenn sie sich nicht einigen können, sollen sie doch einfach Sara fragen.“
      Der Weihnachtsmann lächelte. Auf sein Lieblingsrentier war eben Verlass.
      „Hol mir doch bitte von den Wichteln etwas Traumstaub, Rudolf. Ich hab da eine Idee.“
      „Wird erledigt!“
      „Ach, und sag den Wichteln, sie sollen sich ein Geschenk für Sara einfallen lassen und es mir dann bringen. Ich möchte ihr noch einen kurzen Brief dazulegen.“

      Wenige Tage später lehnte der Weihnachtsmann am Fenster zur Welt und beobachtete Saras Eltern erneut.
      „Weißt du was?“, setzte Saras Vater an und griff nach der Hand seiner Frau. „Ich habe die Idee. Keine Ahnung, warum ich darauf nicht früher gekommen bist – es ist, als wäre es mir letzte Nacht im Traum eingefallen. Ich möchte dich und Sara auf keinen Fall zurücklassen. Deshalb … lass uns doch einfach Sara fragen, was sie gerne möchte, und dann darf sie entscheiden, ob sie lieber bleiben will oder ob ein Umzug für sie okay wäre.“
      Saras Mutter blickte ihn verblüfft an, dann lächelte sie. „Das war die beste Idee, die du jemals hattest. Ich will doch auch nicht mehr streiten.“ Dann rief sie: „Sara? Kommst du mal bitte?“
      Zufrieden schloss der Weihnachtsmann das Fenster zur Welt und machte sich wieder an die Arbeit – denn bald war Weihnachten und es war noch so viel zu tun.

      © Kristina Plenter 2020