Ausschalten




      Am Rande der großen Stadt, deren Namen fast in Vergessenheit geraten war, spielten der zehnjährige Jonas und seine Freunde in dicke Jacken und Mäntel gehüllt. Sie sollten stets auf den Straßen bleiben, mahnten die Alten aus dem Dorf. Die Älteste jedoch, Jonas' Urgroßmutter, sorgte sich nie um ihren kleinen jungen Mann, denn sie wusste, dass die Stadt kaum eine Gefahr darstellte. Nur vor den Menschen sollte sich ein jeder in Acht nehmen. Allerdings lebten davon keine mehr hinter den dunklen Fenstern der Betonsilos. Einsam waren die Winkel und Ecken, Hauseingänge und Plätze geworden. Nur der Atem eisigen Windes fegte stoßartig durch die Straßenschluchten und sein Geheul drang bis zu ihrer Siedlung, über die im Winter kargen Felder, die unbefestigten Wege, die Reste der menschlichen Zivilisation.
      Heute war ein besonderer Tag, das wussten die Kinder ganz genau. Doch warum das so war, das entzog sich ihrer Kenntnis und die Erwachsenen sprachen nicht darüber, wie sie über vieles nicht sprachen, was älter war, als der letzte Krieg.

      Jonas gähnte genüsslich, nachdem er einen verrosteten Wagen erklommen hatte, um den alten Parkplatz des Einkaufszentrums zu überblicken, wobei weißer Dunst vor seinem Gesicht aufstieg. Natürlich wusste er nicht, dass es ein Parkplatz war, der sich vor ihm erstreckte, und von Einkaufszentren sprach allein seine Urgroßmutter gelegentlich. Die Sonne, die es im Winter nur schwer über die Hochhäuser schaffte, vermochte kaum die Schatten zu verjagen, in deren Schwärze üble Gefahren lauern könnten.
      Seine Augen wanderten über die weißen Linien, die auf dem Asphalt des Platzes gut zu erkennen waren, deren Sinn sich ihm aber bis heute nicht erschlossen hatte. Schließlich blieben sie auf der eingestürzten Seite des Gebäudes ruhen, wo es so merkwürdig rötlich schimmerte.
      »Hey! Seht mal, da!«, brüllte er den Anderen zu, die sich umdrehten und in die von Jonas angegebene Richtung blickten.
      Die Anderen, das waren Matteo, Gustav und Mona. Sie waren alle im selben Alter. Als sie vor dem Berg aus Beton und Stahl zum Stehen kamen, war Jonas der Einzige, der sich traute, hinaufzusteigen.
      »Aber wir sollen doch nicht in die Häuser gehen!«, mahnte Matteo.
      Allerdings hinderte keiner der übrigen drei Jonas daran, Meter um Meter den Trümmern abzutrotzen. Als er die Spitze erreichte, wandte er sich zurück und suchte unten die roten Gesichter seiner Freunde, die hoffentlich zu ihm aufsahen. Doch diese waren bereits mit einer Apparatur an einem der Hauseingänge beschäftigt. Könnte da etwas interessanter sein, als das rote Schimmern? Und gerade, als er das dachte, schaute er wieder nach vorn, wo die Schatten eigentlich am dunkelsten sein sollten und erblickte dort die Quelle des Leuchtens. In der Ecke, zwischen alten Betonbrocken, Staub und Metall, lag ein Baum mit grünen Nadeln, behangen mit Kugeln, rot wie Blut, mit einem Stern an der Spitze, der funkelte wie ein Himmel bei Nacht. Mutig setzte er einen Fuß vor den anderen, näherte sich dem unbekannten Ding mit Bedacht und Vorsicht. Noch nie war er in eines der Häuser gegangen. Sein Blick glitt ab zu den Scheiben, hinter denen Plastikmenschen standen, nackt und hilflos. Das rote Glimmen der Schmuckkugeln am Baum, tauchte die Szene in blanke Gefahr. Obgleich Jonas fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, je näher er dem Baum kam, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass er lediglich interessant wirke, es aber in Wahrheit gar nicht war.
      »Jonas! Wo bist du?«, hallte es von draußen dumpf an seine Ohren. Einen Moment noch betrachtete er den Baum, zuckte dann mit den Schultern und verließ schnurstracks das zerfallene Gebäude. Als er jedoch wieder auf dem Trümmerberg stand, da drehte er sich herum und der Baum war mit seinem Schmuck verschwunden. Kein schimmernder Stern mehr, kein rotes Leuchten, nur noch schwarz war der Ort, wo er eben noch stand. Finster und unheilvoll. Kein Ort für ein Kind.
      Auf dem selben Weg, wie er hinauf gekommen war, stieg er nun auch wieder hinab, wo Mona schon auf ihn wartete.

      »Komm schon, wie haben was gefunden!«
      »Ja? Ich auch, da oben«, er nickte mit dem Kopf in Richtung der eingestürzten Wand. »Aber als ich mich umgedreht hatte, war es plötzlich weg.«
      »Was denn?«
      Bevor Jonas dazu kam, Mona von seinem Fund zu berichten, tönte eine metallische Stimme wenige Meter vor ihnen, gefolgt von erstaunten Rufen der Kinder.
      »Hallo, ich bin der Infobot Version 5 der Firma Adler Industries. Wie kann ich Ihnen dienen?«
      »Was ist ein Infobot?«, fragte Matteo die Anderen.
      »Ein Infobot«, begann der Roboter, »ist ein Gerät, das Ihnen nicht nur den Alltag erleichtern, sondern auch bereichern soll. Adler Industries hofft, diesem Wunsch gerecht zu werden.«
      »Ein Wunsch?«, fragte Jonas seine Freunde, »Was für ein Wunsch denn?«
      »Wünschen Sie, mit dem extraterrestrischen Datenserver verbunden zu werden?«
      »Ja«, sagte Gustav.
      »Verbindung hergestellt. Datenpaket veraltet. Einige Funktionen sind deaktiviert.«
      So lag das Stück Metall, dessen Monitor ein fehlerhaftes Bild ausgab, also nutzlos vor ihnen.
      »Sollen wir es mitnehmen?«, fragte Mona.
      »Warum nicht?«
      »Ja!«, antwortete plötzlich der Roboter. »Ich bin das ideale Geschenk für jedermann! Besonders heute, an diesem heiligen Tag.«
      »Was redet das Ding nur?«
      »Heute ist der vierundzwanzigste Dezember zweitausendeinhundertachtzig«, gab die Kiste Auskunft. »Der Tag, an dem Jesus Christus vor zweitausendeinhundertachtzig Jahren geboren wurde. Nun, ganz sicher sind sich die Wissenschaftler nicht, aber die Menschen nehmen an, dass es so war. War diese Auskunft befriedigend? Bitte bewerten Sie auf einer Skala von null bis fünf, wobei fünf für vollste Zufriedenheit steht und null für keine Zufriedenheit«, flötete der Infobot fröhlich.
      »Fünf!«, riefen die Kinder unisono. »Den nehmen wir mit!«
      Zu viert, Jonas trug hinten, Matteo vorn, Gustav links und Mona rechts. Der Infobot sah ein Wenig aus, wie ein Mensch. Allerdings hatte er keine Beine und die Arme waren eher dünn und wohl nur für rudimentäre handwerkliche Tätigkeiten ausgelegt.
      »Infobot! Wer ist Jesus Christus?«, fragte Jonas, kurz bevor sie die letzten Häuser der Stadt hinter sich ließen. Die Sonne schien knapp über dem Horizont und tauchte den Nachmittag in ein sattes Orange.
      »Jesus Christus ist dem Christentum zufolge der Sohn Gottes. Er wirkte Wunder, konnte die Regeln der Physik außer Kraft setzen und starb letztlich für die Sünden der Menschheit am Kreuz. Auf dem Grabhügel, wo Jesus gekreuzigt wurde, hing zu seiner Rechten der bußfertige Schächer Dismas und zu seiner Linken der Jesus verhöhnende Schächer Gestas. Nach Jesus' Tod begründeten seine Anhänger die Religion des Christentums.«
      »Was ist das Christentum?«, fragte nun Mona.
      »Eine sehr gute Frage!«, antwortete der Roboter, »Noch zehn Jahre vor der globalen Klimakatastrophe gab es circa drei Milliarden Christen auf der Welt. Die Religion selbst war auf mehrere Evangelien aufgeteilt, die je nach Region mehr oder weniger vertreten waren. Um auf weitere Informationen zuzugreifen, buchen sie bitte das Paket 'Glaube und Religionen – Zwischen Segen und Irrsinn'.«
      Während sie dem Stück Metall zuhörten, verließen sie die Stadt. Die asphaltierte Straße vor ihnen bröckelten und wurden schließlich zu breiten Trampelpfaden.
      »Infobot. Was war die Klimakatastrophe?«
      »Vor etwa fünfundachtzig Jahren kollabierte das Klima auf der Erde. In äquatorialen Regionen stiegen die Temperaturen in einen Bereich, der kein menschliches Leben mehr ermöglichte. Gleichzeitig schränkten der gestiegene Meeresspiegel die Lebensräume des Menschen immer weiter ein. Von etwa fünfzehn Milliarden Menschen auf der Welt, flüchteten vier Milliarden aus den zu heißen Gebieten in kühlere Gefilde. Durch die hohe Bevölkerungsdichte entstanden Spannungen und schließlich der Krieg. Die letzte Schätzung ging davon aus, dass es nach dem Krieg nur noch etwa dreihundert Millionen Menschen geben wird. Der Grad an Technisierung wird abnehmen, der Mensch wieder Teil der Natur. Ein Philosoph unserer Zeit sagte, dass erst dann der Planet verzeihen könnte, den Menschen je hervorgebracht zu haben, wenn der Mensch wieder eben dieser Teil der Natur wird und nicht wider der Natur handelt. Dies ist in sofern unlogisch, da ein Planet nicht in der Lage ist, zu verzeihen.«
      In der Ferne sahen die Kinder schon die Rauchsäulen aufsteigen, bald schon die Dächer, auf denen die letzten Strahlen der Sonne rötlich schimmerten. Als Jonas dies erblickte, erinnerte er sich wieder an den Baum, an dem Kugeln hingen und dessen Stern so lieblich funkelte.
      »Infobot. Warum hängen Menschen Kugeln an Bäume?«
      »Durchsuche Datenbank«, gab die Maschine von sich und drei erstaunte Gesichter drehten sich zu Jonas herum.
      »Eintrag gefunden: Weihnachtsbaum.«
      »Was ist ein-«, doch Jonas konnte die Frage nicht mehr stellen, da fiel ihm seine Urgroßmutter, die am Rand der Siedlung gewartet hatte, ins Wort.
      »Ein Weihnachtsbaum ist eines der schönsten Dinge, die ein Kind erblicken kann. Vor dem Krieg haben meine Eltern immer einen aufgestellt am heutigen Tage. Doch wir machen dies nicht mehr, weil der Konsum, so wie ihr ihn gerade herumtragt, liebe Kinder, den Sinn des Festes zerstört hat. Denn die Kinder verbanden mit dem geschmückten Baum nicht mehr das Fest selbst, sondern nur die Geschenke, die darunter zu finden waren. Keiner sah mehr das Schöne, was dem Baum inne war. Die Zusammenkunft der Familie, die gemeinsam verbrachte Zeit in Einklang und manchmal auch Streit. So war das eben.«
      »Und warum machen wir das nicht mehr, Großmutter?«
      »Einerseits,« antwortete sie schnaufend, als sie neben den Kinder herging, »weil wir kaum noch etwas zum Schenken haben. Andererseits, weil wir mit dem Leben von damals abgeschlossen haben. Sagt mir, Kinder, wo habt ihr denn einen solchen Baum gesehen?«
      Wieder drehten sich die Gesichter stumm zu Jonas.
      »Ich habe einen gesehen. In einem Haus. Wirst du jetzt böse sein, weil ich in ein Haus gegangen bin?«
      »Aber nein«, beruhigte ihn die alte Frau. Der Junge atmete hörbar vor Erleichterung durch.
      Mit wenigen Worten schilderte Jonas die Situation, in der er den Weihnachtsbaum gesehen hatte.
      »Nun, in Einkaufszentren waren sie oft zu finden, denn da kauften Eltern ihren Kindern die Geschenke. Warum er wieder verschwunden ist? Wer weiß das schon? Der Mensch ist auch verschwunden. Und sieh dir nur an, wie schön die Welt ohne ihn geworden ist. So ruhig. Keine Hektik mehr. Und alle essen jeden Tag am selben Tisch.«
      »War es damals denn anders? Als du jung warst, meine ich?«
      Jonas' Urgroßmutter lachte gellend.
      »Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, wie es war, jung zu sein, weißt du? Aber das Ding da, das ihr angeschleppt habt, daran erinnere ich mich noch gut. Genauso, wie an den Weihnachtsbaum. Doch irgendwann verblasst die Erinnerung, müsst ihr wissen. Aber auch, wenn das geschieht, dürft ihr eines nie vergessen: Wie alles angefangen hat. Die Fehler, die begangen wurden, müssen weitergegeben werden. Denn wenn diese noch einmal begangen werden, könnte das unser Ende bedeuten.«
      Sie waren nun in der Mitte der kleinen Siedlung angelangt und die Kinder legten den Infobot an das Windrad, das Strom erzeugte und schlossen ihn an.
      »Deswegen beschenken wir uns heute noch gegenseitig, stellen aber keinen Baum mehr auf. Es geht nicht mehr um Konsum oder seine Symbole, sondern darum, was nötig ist. Seid nicht enttäuscht, wenn ihr nicht das bekommt, was ihr euch gewünscht habt. Seid dankbar für das, was euch gegeben wurde. Und hoffentlich gebt ihr irgendwann auch das Gute, das euch widerfahren ist, weiter. Dann ist alles gut.«
      Die Kinder und die alte Frau standen vor dem Infobot, der langsam aber sicher wieder Energie gewann.
      »Ausschalten.«, befahl die alte Dame und das Display des Infobots wurde schwarz wie die tiefen Schatten der Stadt. Erst jetzt erkannte Jonas in der Spiegelung in eben jenem Bildschirm sich selbst, seine Freunde und seine Urgroßmutter und er erschauderte.

      ©Alexander Gruß 11/2018