Schicksal



      Er trat nervös von einem Bein aufs andere, sorgsam darauf bedacht, seine blankgeputzen Schuhe nicht mit dem aufgeweichtem Schneematsch zu beschmutzen.
      Seinen besten Anzug hatte er angezogen, den grauen mit den weißen Nadelstreifen, und sein gutes Rasierwasser aufgelegt.
      Hoffentlich würden ihr die roten Rosen gefallen, die er von mühsam ersparten Geld gekauft hatte.
      Sorgsam zupfte er das dünne Blumenpapier zurecht, das die Rosen vor den leise herabfallenden Schneeflocken schützen sollte.
      Bald war Weihnachten und vielleicht würde ja heute sein sehnlichster Wunsch schon in Erfüllung gehen.
      Er schaute er zur Turmuhr...15 Uhr, nun musste sie endlich kommen.

      Sie biß sich auf ihre Unterlippe, das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. Vorsichtig strich sie ihr rotes Kleid glatt, das Mutter extra noch am Saum verlängert hatte.
      Sogar ihre zarte, weiße Perlenkette durfte sie tragen und ihre Schwester hatte ihr langes, dunkles Haar zu einer schicken Hochsteckfrisur gekämmt.
      Sie hatte sich gegen eine Mütze entschieden und nun legten sich die kleinen Eiskristalle wie glitzernder Schmuck in ihre Haare.
      Dieses Jahr würde Weihnachten ganz besonders werden, da war sie sich sicher.
      Mit geröteten Wangen schaute sie auf ihre silberne Armbanduhr, ein Erbstück ihrer Großmutter...14:40 Uhr, sie war scheinbar zu früh. Vorsichtig, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen, ging sie noch schnell zu den Toiletten.

      Er wartete noch 10 Minuten, dann ging er traurig nach Hause. Nie wieder wollte er sie Wiedersehen.

      Sie wartete noch 10 Minuten, als sie erschrocken feststellte, dass die Turmuhr schon 15:30 Uhr zeigte.
      Ihre Uhr war stehen geblieben.
      Im Abfalleimer neben ihr fand sie einen Strauss roter Rosen.

      ©Stefanie Bogner-Raab 11/2018