Der beste Winter

      Der beste Winter



      Der beste Winter, an den ich mich erinnern kann, war der, als ich sieben Jahre alt war.
      Das ganze Wochenende über war es trüb gewesen. Es hatte über Nacht geregnet. Und nichts, wirklich nichts hatte nach Winter ausgesehen.
      Bis zum nächsten Morgen.
      Auf der Straße lag eine zentimeterdicke Eisschicht. Die Luft schmeckte nach nichts als nach Kälte. Der Himmel sah aus wie zementiert und nur ein einzelner Vogel saß drüben auf dem Grundstück der Ullmanns auf dem gefrorenen Kopf eines Holzpfahls und pickte beharrlich in dem Eis zwischen seinen Beinen.
      Anstatt aus der Haustür nach rechts Richtung Garage zu gehen, ging mein Vater zur Straße, was er ja sonst nie tat. Er ging ganz vorsichtig über unsere Einfahrt und dann stand er dort vorne an der Lingenfeldstraße und stemmte die Fäuste in die Hüfte. Er stand da und musterte die Straße. Während er nachdachte, kaute er wie immer mit den Eckzähnen auf der inneren Haut seiner Wangen herum. Dabei verzog er ganz merkwürdig das Gesicht. Und so gab er eine ganz und gar merkwürdige Gestalt ab dort vorne. Inzwischen war meine Mutter zur Tür gekommen, hatte sich zitternd die Weste noch enger um den Körper gezogen und legte ihren Arm um mich.
      Mein Vater kam schließlich kopfschüttelnd wieder zurück und sagte einfach nur: „Das wird nix.“ Und meine Mutter antwortete: „Wir sind eingeeist.“
      „Was heißt das?“, fragte ich.
      Mit sehr unangenehmem Unterton antwortete mein Vater: „Das heißt keine Schule und keine Arbeit heute.“
      Der Winterdienst kam ohnehin selten in die Lingenfeldstraße, weil es hier zwei enge Kurven gab und zudem begann an unserem Haus eine im Winter fast nicht zu überwindende Steigung für die großen Streukolosse. An diesem Tag versuchten es nicht wenige, die vereiste Straße zu bezwingen. Aber sobald sie an unsere Einfahrt kamen, zu der Stelle, an der mein Vater heute Morgen noch gestanden hatte, drehten die Reifen auf dem Eis durch. Die Autos schlingerten hilflos zur Seite und schlitterten dann seitwärts den Hang nach unten auf das Grundstück der Ullmanns zu. Sicher, mein Vater hatte gemeinsam mit zwei, drei Nachbarn gestreut, einer war sogar mit einer Spitzhacke auf das Eis losgegangen. Die Nachbarschaft versuchte gemeinsam, die steckengebliebenen Autos zu befreien. Und ich saß am Fenster und schaute den Erwachsenen beim Scheitern zu. Sie hatten allein schon Probleme, am Hang auf den Beinen zu bleiben.
      Es war wie eine Show. Anstatt in der Schule zu sein, saß ich auf der breiten Fensterbank, wärmte mich an einer Tasse Tee und hatte die Stirn gegen das kalte Fensterglas gelehnt. Mein Atem beschlug auf der Scheibe und der kräftige Herr Ullmann, der mit seiner Daunenjacke aussah wie der große Marshmallowmann von den Ghostbusters, schlitterte vor meinen Augen rückwärts den Hang hinab, während die Beine immer weiter auseinander gingen.
      Mein Opa hatte sich zu mir gesellt und als Ullmann mit dem übergroßen Hintern in einer Hecke stecken blieb, fragte er mich: „Warum bist du eigentlich noch hier drin?“
      Ich antwortete nichts, sondern sah einfach nur zu, wie mein Vater mit zwei fremden Männern versuchte, Ullmann zu befreien, ohne selbst den Halt zu verlieren.
      „Komm mit, ich zeig dir einen alten Trick.“, sagte mein Opa und dann saßen wir draußen im Treppenhaus auf der untersten Stufe und zogen unsere Winterschuhe an, während die halbe Nachbarschaft mit meinem Vater das Haus betrat. Sie unterhielten sich darüber, dass es heute unmöglich sei, die Autos zurück auf die Straße zu bringen. Und ich sah, wie sie ihre blauen Hände aneinanderschlugen, ehe sie dankbar die heiß dampfenden Teetassen meiner Mutter in Empfang nahmen.
      „Wärmt euch erst Mal.“, sagte mein Vater zu ihnen, blieb selbst aber im Treppenhaus zurück.
      „Und ihr?“, fragte er. „Was macht ihr?“
      „Rausgehen.“, erklärte ich und klatschte mit den dicken Handschuhen an den Händen.
      „Und was soll das da?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
      „Ein alter Trick.“, erklärte mein Opa und nahm ein Paar alte Wollsocken von der Treppe. Die grob gestrickten, grauen Socken zog er erst mir und dann sich selbst über die Winterschuhe.
      „Und was soll das bringen, bitteschön?“
      Er antwortete meinem Vater nicht, sondern zwinkerte mir einfach nur listig zu.
      Mit den Wollsocken trat mein Opa voran. Er ging über die Einfahrt, als ob das Eis gar nicht vorhanden wäre. Ich versuchte es auch und siehe da: die groben Wollsocken rutschten nicht. Ich klebte nach ein paar Schritten sogar fest und musste die Wolle regelrecht vom Eis losreißen.
      „Ungefähr eine Stunde oder zwei.“, sagte mein Opa zu mir. „So lange dürfte es funktionieren. Dann fängst du auch mit den Socken an zu rutschen. Aber bei dieser Kälte sollte man sowieso nicht zu lange draußen sein.“
      Er hatte Recht. In seinem Gesicht sah ich, wie die pockennarbige Haut sich bereits verfärbte.
      Ich ging über die unter meinen Schritten knirschende Wiese. Die kurz gemähten Grashalme, zwischen denen die harte, braune Erde mit silbrigem Reif überzogen war, brachen unter meinen Schritten, als ob ich über hauchdünne Eisstäbchen gehen würde.
      Ich schlenderte runter zu den Autos in Ullmanns Graben. Es waren drei. Ja wirklich. Drei Leute hatten heute Morgen trotz aller Vernunft versucht, die Straße zu bezwingen und wohl gedacht, dass sie es besser konnten, als die anderen.
      Es war pures Glück, dass die Autos nicht noch ineinander gekracht waren. Nein: sie standen brav je etwa zwanzig Zentimeter voneinander entfernt. Eins seitlich, eins mit der Schnauze in die falsche Richtung, das dritte so kerzengerade, als wäre es eingeparkt worden.
      „Idioten!“, hörte ich plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich um und sah Boris. Er ging in meine Klasse und wohnte in der selben Straße, aber am anderen Ende.
      „Die haben gedacht, mit Anlauf würden sie es hoch schaffen.“, seine Augen rollten in den Höhlen. Und dann wieder sein Urteil: „Idioten.“
      „Die sitzen jetzt bei uns zu Hause und trinken Tee.“
      „Ist das beste, was man bei dem Wetter tun kann.“, meinte er altklug. Dann lehnte er sich lässig gegen die Seite eines Autos und fragte: „Was soll denn das mit den dämlichen Socken?“
      Zur Antwort zeigte ich es ihm. Ich ging einfach auf die Straße und dann den Berg hoch und ich stellte mich einfach hin und genoss es, wie er mich verblüfft anstarrte, weil ich nicht den Hang hinunter rutschte. Dann grinste er breit und sagte einfach nur: „Irre!“
      Es war klar, dass er sich auch ein paar Socken organisierte und über die Schuhe stülpte. Und dann zogen wir einfach los durch ein Dorf, das völlig ausgestorben wirkte. Auch die Hauptstraße: nicht ein einziges Auto. Wir stapften mitten auf der Fahrbahn. Für Siebenjährige war das ein unglaubliches Gefühl. Als wäre eine hauchdünne Schicht wie ein durchsichtiges Abziehbild von der Welt gezogen worden. Und mit ihr waren alle Autos, alle Erwachsenen fort. Nur Boris und ich waren übrig geblieben. Schritt für Schritt klebten wir an dieser sich ganz neu und anders anfühlenden Welt fest. Wir waren die neuen Besitzer der Welt geworden, die sich nun kalt, leer, unglaublich weit und offen anfühlte.
      Im stummen Einverständnis zogen wir immer bergauf. Und dabei gerieten wir unweigerlich auf unseren Schulweg und landeten auch schließlich an der Schule. Es war schon verrückt, dass wir jetzt hier waren. Wir hätten unseren schulfreien Tag sonstwo sicherlich besser genießen können, als ausgerechnet hier.
      Aber irgendwie hatte es auch etwas. Wir saßen auf den Steinen, die die Viertklässler mit Vikingerrunen bemalt hatten und ließen den Blick über den menschenleeren Schulhof streifen. Das Eis war hier dicker als auf der Hauptstraße. Hier war es auch viel weißer. Die Wiese, die wie ein breites Band um den Schulhof herumlief, war so weiß vor Frost, als läge schon Schnee darauf. Und man konnte regelrecht seine eigenen Schritte darauf knirschen hören, obwohl man hier nur saß und hinüber blickte. Denn das Weiß sah gläsern und zerbrechlich aus. Überhaupt fand ich: Winter hatte immer etwas Zerbrechliches. Die Kargheit, die Stille, das Weiße, Kalte.
      In meinem siebenjährigen Kopf formte sich ein Gefühl dafür, was der Winter bedeutete. Ich meine jetzt nicht die Art von Winter, wie sie es einem in der Schule beibrachten: ein Teil des ewigen Kreislaufes von Leben und Sterben; von Blättern, die abfallen und im Frühling wieder knospen. Schnee, der fällt und wieder schmilzt. Ich verstand eine Art von Winter, die einen tieferen Sinn hatte.
      Die Welt schläft, hieß es in unserem Naturkundebuch. Und ich erinnere mich noch genau an das Bild, das daneben abgedruckt war: ein unter der Erde liegender, eingerollter Siebenschläfer. Mein erster Gedanke dazu war gewesen: Ich habe einen Siebenschläfer noch nicht mal im Sommer wach und durch die Wälder laufen gesehen. Aber ich soll wohl wissen, dass er sich im Winter unter der Erde zusammenrollt. Und jetzt auf einmal musste ich an ihn denken, den eingerollten Siebenschläfer. Ich erinnerte mich an die kalt gefrorenen, braunen Flecken in der Wiese unseres Vorgartens, sah das gläserne Eis auf dem Schulhof, das blendende Weiß des Frostes. Und unter dieser hart gefrorenen Schicht schliefen Tiere. Wie die ganze Erde hartgefroren sich wie ein Ei um Milliarden schlafenden Lebens schloss. Ich stellte mir diesen Vorgang vor, so wie Wasser kristallisiert. So wie alles in einem Zeitraffer um einen herum knirschend und knisternd hart wurde, wie ... ja, wie Eisen.
      Mein kleiner, siebenjähriger Kopf konnte das natürlich nicht in Worte packen. Es war zu viel an Gefühl, versteht sich, für diesen kleinen Körper, der da auf den Runensteinen neben seinem besten Freund saß und vor Kälte zitterte.
      Auf einmal machte Boris: „He, sieh mal! Ich glaub’s ja nicht! Stell dir das vor: wir sind nicht die einzige Idioten, die an einem schulfreien Tag zur Schule gehen.“
      Seine Worte rissen mich aus dem Wintergefühl heraus. Ich folgte seinem Blick und da sah ich einige andere Kinder kommen. Sie fuhren auf Schlittschuhen, hatten Schlitten dabei und zogen darauf ihre Geschwister, schlingerten und arbeiteten sich mühsam über die spiegelglatte Straße vorwärts.
      Als sie uns sahen, ob sie uns erkannten oder nicht, winkten sie uns zu und riefen uns was entgegen. Ein paar hatten einen Ball dabei und sagten nur „Wir spielen einfach Eisball.“, ein paar hatten Taschenwärmer dabei, die herumgereicht wurden. Aber nach zehn Minuten waren wir ohnehin alle am Spielen und es wurde uns warm. Und dabei taute die Erde langsam auf, ein paar Wolken trennten sich vor dem blassen Blau des Winterhimmels, die Erde knackte wie die Schale eines Eies und das Abziehbild mit den Menschen wurde sachte wieder auf unser Dorf drauf geklebt.
      Die Autos in Ullsteins Graben wurden erst am nächsten Tag von einem Bauern mit Traktor zurück auf die Straße gezogen. So richtig vereist wurde die Welt seitdem nur noch einmal ein paar Jahre später. Das geschah aber während wir schon in der Schule saßen. Und während die anderen Kinder in der Schule feststeckten und sich genervt und gelangweilt überlegten, wie sie hier ihre Zeit verbringen mussten, stülpten Boris und ich ein paar Wollsocken über unsere Schuhe und waren stolz, die einzigen zu sein, die die Schule verlassen und den Weg nach Hause antreten konnten.
      Aber dieser Heimweg ist eine andere Geschichte. Die heben wir uns besser für einen anderen Abend auf, ok?

      © Holger Kellmeyer 11/2018