Der Junge



      Dieser verdammte Berg. Man braucht ewig, um dort hinauf zu fahren und am Ende wieder hinab. Ewig bedeutet in meinem Fall ungefähr sieben Minuten. Mein Wagen ist voller Pakete und wenn ich mein Tagesziel schaffen will, muss ich alle drei Minuten einen Kunden abgearbeitet haben. Je nachdem, wie die da oben drauf sind, kann ich noch weitere fünf Minuten verlieren. Und wenn es so eine Nummer wird wie vor einem halben Jahr in dem anderen Kinderheim - dann gute Nacht! Warum müssen Kinderheime auch immer so abgelegen sein? Denkt denn keiner an Paketboten oder die Zeit, die Rettungsdienst und Feuerwehr bis dorthin brauchen?
      Während ich meinen Wagen, den Serpentinen folgend, diesen elenden Berg hinaufschraube, tauchen die Erinnerungen an das andere Kinderheim in meinem Kopf auf. Kaum hatte ich damals mit dem Paketwagen den Vorplatz des Heimes befahren, landeten etliche weiße, grüne und gelbliche Ladungen von Rotze auf der Frontscheibe. Dieses Heim war ganz offensichtlich für die schwer erziehbaren Kinder gedacht. Der Weg zum Büro
      glich einer Tortur. Etliche Kinder, ich glaube, es waren tatsächlich nur Jungen gewesen, klebten förmlich an mir. Zogen an meinen Hosen und der Jacke, wollten mir das Paket und den Scanner aus den Händen reißen und
      erst nach einer gefühlten Ewigkeit erschien die Rettung in Form eines antiautoritär agierenden Sozialpädagogen, der sich selbst schon vor langer Zeit aufgegeben hatte. Nun, eine wirkliche Hilfe war der Typ dann doch
      nicht gewesen. Ich half mir selbst, indem ich unbeholfen autoritär versuchte, mir einen der Jungs zu schnappen. Nicht, dass ich es ernsthaft vorgehabt hätte, aber der Erfolg stellte sich direkt ein. Sie wichen mir geschickt aus und flohen alsbald vor meinen vorgetäuschten Bemühungen, einem von ihnen habhaft zu werden.
      Kurz darauf folgte die übliche Diskussion mit einem hochstudierten Menschen, der niemals nachts allein aus dem Wald finden oder gar einen Radwechsel zustande bekommen würde: „Was ist das denn?“
      „Ein Paket!?“
      „Für wen?“
      „Für das Kinderheim!?“
      „Was ist denn da drin?“
      „Das weiß ich nicht. Es geht mich nichts an und es interessiert mich auch nicht.“
      „Jetzt seien sie mal nicht so unfreundlich.“
      „Ich benötige hier eine Unterschrift.“
      „Wofür?“
      „Für das Paket!?“
      „Wo kommt das denn her?“
      „Von der Firma ‚Büro und mehr‘ aus Düsseldorf.“
      „Was wollen die denn?“
      „Ihnen Ware liefern lassen!?“
      „Sie sind wirklich ein sehr unhöflicher Mensch. Dann geben sie halt den Stift her. Wo soll ich unterschreiben?“
      „Hier! Bitte! Wer wäscht denn jetzt die Rotze von meinem Wagen?“
      Schweigend hatte er das Paket genommen und sich entfernt.
      Auf dem Rückweg zum Paketwagen konnte ich die Jungen vereinzelt in ihren Verstecken erkennen, aus denen sie mich, teils wütend, teils grinsend und teils sehr traurig beobachteten. Sie taten mir allesamt leid. Vor allem
      aber die mit dem traurigen Blick. Was an ihnen nicht schon verdorben war, würde dieses Heim auch noch zugrunderichten. Es war ein Jammer! Ein riesengroßer Jammer!
      Mit diesen Erinnerungen in meinem Kopf biege ich auf das Gelände des Kinderheimes, hier oben auf dem Berg, ein. Kein Kind ist zu sehen und keine Rotze landet auf dem Paketwagen. Es ist still. Das Paket ist nicht
      sehr groß und ich begebe mich auf die Suche nach einem Büro, welches hoffentlich besetzt sein wird.
      Gerade habe ich die Stufen zur Haustür hinter mir gelassen, als ein Junge neben mir steht und mich anschaut, als wäre ich der Erlöser und gekommen, um die frohe Botschaft des Weltfriedens zu überbringen. Er ist
      maximal 5 Jahre alt und sagt kein Wort. Es bedarf auch keiner Worte. Mir ist sofort klar, was in ihm vorgeht. Ich bin der potentielle Papa. Der vielleicht gekommen ist, um ihn zu adoptieren. Seine kleinen großen Augen
      senden eine eindeutige Werbebotschaft. Verdammt, der Kleine wirbt tatsächlich um mich! Er will mich! Ich muss aus dieser Nummer raus! Irgendwie!
      Ich kann jetzt schon kaum das kleine Paket mehr halten.
      „Hallo du! Ich bin der Paketbote und habe hier ein Päckchen für euer schönes Heim.“ Ich möchte mich selbst ohrfeigen. Mir selbst die Nase brechen für diesen beschissenen Spruch.
      „Kannst du mir sagen, wo eure Erzieher sind. Jemand muss unterschreiben.“
      Der Kleine sagt noch immer kein Wort. Aber die Freude darüber, mir den Weg zeigen zu dürfen, sucht ihresgleichen. Nicht tausend andere Kinder zusammen könnten an Heiligabend glücklicher sein.
      Mir ist schlecht. Ich glaube, ihn auszunutzen. Ich komme mir vor wie ein Dieb, der die Zeche prellen wird. Aber ich bin kein Dieb, noch nie gewesen.
      Dennoch werde ich heute die Zeche prellen.
      Die eigentliche Zustellung des Paketes geschieht schnell und unproblematisch, während er vor dem Büro auf mich wartet. Natürlich tut er das.
      Voller Ungeduld und die Sekunden müssen ihm wie Stunden vorkommen.
      Ich stehe wieder vor ihm. „Hey Kumpel, ich muss jetzt wieder los. Es warten noch so viele andere Leute auf ihre Pakete.“
      Auf dem Weg nach draußen nimmt er meine Hand. Nicht zu zaghaft, aber auch nicht zu fest. Er hält mich, als würden wir uns schon Jahre kennen. Ich drehe fast durch. Das kann ich nicht! Das will ich nicht! Selbst
      wenn ich wollte. Ich bin schwul und alleinstehend. Kein Amt der Welt würde mir ein Kind überlassen. Alles ist falsch! Dieser ganze beschissene Planet ist falsch!
      Bis wir am Paketwagen angekommen sind, klebt sein Blick an meinem Gesicht, das irgendwie versucht, locker zu wirken, und doch nur stur geradeaus starrt.
      Jetzt will ich ihn auch! Ich will ihn baden, ihm Brote machen und in die Schule bringen. Will ihm bei den Hausaufgaben und bei Liebeskummer helfen. Ich will stolz bei irgendwelchen bescheuerten Schulaufführungen
      sitzen und ich will streng sein, wenn er Scheiße gebaut hat. Ich will ihn ins Leben führen. Und ich will ihm jeden verdammten Abend sagen, dass alles gut ist und er sich auf mich verlassen kann.
      Aber ich höre mich nur sagen: „Ich muss jetzt wirklich los. Alle anderen warten schon auf ihre Pakete.“
      Während ich mit meiner rechten Hand sein Handgelenk halte, um ihm meine linke Hand zu entziehen fängt er an zu reden. Seine Stimme klingt in meinen Ohren wie eine Mischung aus Bambi, dem Dalai Lama und Mutter
      Teresa: „Hast du eine Frau? Hast du Kinder?“ Derweil mein Herz stehenbleibt, erschrickt er für einen Moment vor sich selbst, weil er die Frage falsch formuliert hat, und schiebt sofort die richtige Frage hinterher: „Willst
      du einen Sohn haben?“
      Sterben! Das wäre eine Option, um sich mit Würde aus dieser Situation zu befreien. Stattdessen höre ich mich nur wieder herumfloskeln:
      „Ich habe leider keine Zeit für eine Frau und ein Kind. Ich muss immer nur Pakete fahren. Und jetzt muss ich wirklich los. Vielleicht sehen wir uns wieder, wenn ihr das nächste Mal einmal ein Paket bekommt.“
      Da steht er, verzieht keine Miene und ist bei diesen Begegnungen offensichtlich Kummer gewöhnt, während ich mich beeile in den Wagen zu steigen, um davon zu fahren. Mit aller Gewalt schaffe ich es, mein Lächeln
      nicht gequält aussehen zu lassen, als ich ihm im Fortfahren noch einmal winke.
      Auf halber Strecke ins Tal gibt es einen Parkplatz. Ich brauche eine Pause. Mein Hemd und meine Hose werden nass. Von Tränen. Manche davon fangen die lenkenden Armen auf halbem Weg ab. Da, endlich, der
      Parkplatz. Ich bremse hart, stelle den Fahrtenschreiber auf Pause und den Handywecker auf 15 Minuten, öffne die Tür zum Laderaum, kauere mich unter eines der Regale und heule, als hätte gerade jemand meine ganze
      Familie vor meinen Augen ausgelöscht.

      © Dirk Jäger, 12/2019