Aurélie betrat an der Seite ihrer Großmutter aufgeregt die Katakomben. Bald war Weihnachten, und wie jedes Jahr versammelte sich das halbe Dorf in Monsieur Haricots Buchladen, um Geschenke für die kleinen Bewohner des Kinderheims von Madame Yuna zu verpacken.
In einem der Ohrensessel saß die blinde Müllerin und häkelte Schleifenbänder. Sie lauschte Haricot, der gerade „Die Legende von Ys“ in ihrer geliebten alten Sprache vortrug, und lächelte selig. Sogar der Buchhändler war in Weihnachtsstimmung. Das lag vielleicht auch ein wenig am Vin chaud, der in einem Topf auf dem Kachelofen stand und weingetränkte Zimtwolken im Raum verteilte.
Während er erzählte, wies er Aurélie mit Handzeichen an, die Bücher auf dem Tresen in Geschenkpapier einzuwickeln. Aurélie las erstaunt die Buchtitel, von denen sie noch nie gehört hatte. „Der Todesstern“, „Die Meister der Macht“, „Flucht ins Ungewisse“. Nicht ein einziges Buch über ihre geliebten Steine war dabei. Haricot sah ihre Enttäuschung und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Die Jungs im Kinderheim brannten für Star Wars, was sollte man da machen?
Louann, die Bistrochefin, dirigierte in Haricots Küche mit einem riesigen Holzlöffel ihre Helfer und rührte nebenbei Kreise ins Karamell. Ihre Schwester Mariann verpackte Berge voller duftender Butterkekse in Papiertüten. Pierre, der Paketbote, stand am Spülstein, wusch eine Schüssel nach der anderen ab und stapelte sie sorgfältig auf der Ablage.
Louann stemmte ihre Hände in die Hüften und betrachtete stolz ihre Bûche de Noël, die ihr wie immer besonders gut gelungen war. Ihr Backwahn erreichte in der Weihnachtszeit seinen Höhepunkt, und dieser ganz besondere Kuchen mit viel Butter, Früchten und Salzkaramell krönte stets das Fest.
Nach und nach wanderten all die fertigen Päckchen und Backwaren in Pierres gelben Citroën. Am späten Heiligabend würde er die Fuhre zum Kinderheim bringen und unter der prächtigen Tanne in der Eingangshalle verteilen, während die Kinder schliefen.
Kurz vor Mitternacht, als alle Helfer bereits in ihren Betten lagen, verließ Haricot die Katakomben in Richtung Zauberwald. Der Himmel war klar und weit, als er über den alten Steinfriedhof flanierte. Er legte eine weiße Hortensienblüte nieder und bat die weisen Dolmen um ein weiteres Jahr.
© Marlene Liebschenk 2019